© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Schlangestehen in Manchester
Matthias Fechner

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie ich den 9. November 1989 verbracht habe. Allerdings trachtete ich damals danach, mit möglichst wenig Geld zu überleben, was mich veranlaßte, ein Haushaltsbuch zu führen. Dieses Büchlein habe ich seltsamerweise aufbewahrt. So ist es mir nun ansatzweise möglich, daraus meinen Tagesablauf zu rekonstruieren.

Ich studierte, das sollte ich vorausschicken, im Wintersemester 1989/90 als DAAD-Stipendiat an der Universität Manchester. Dort hatte ich mich für Seminare in Englischer Literatur, Geschichte, Politik und Geographie eingeschrieben. So werde ich morgens wohl den kurzen Weg von meinem Zimmer zu einem der Fakultätsgebäude zurückgelegt haben, um den Ausführungen der Dozenten zu lauschen. Erst danach habe ich wahrscheinlich meine Ausgaben getätigt. Oben auf der Liste stehen zwei sausage rolls, Würstchen in Blätterteig, und ein Weißbrot. Der Preis betrug umgerechnet zwei Mark, erscheint also vergleichsweise gering. Ich erinnere mich, daß damals an der Oxford Road, wo ich wohnte, aus dem Laden einer Bäckereikette Reste und Ausschuß der übrigen Filialen verkauft wurden. Regelmäßig bildete sich dort eine Schlange aus Menschen, die es sich nicht leisten konnten, ihr Brot anderswo zu kaufen. Auch ich erstand in dieser Schlange oft genug mein Essen.

Anstandshalber sollte ich bemerken, daß ich es damals nicht nötig gehabt hätte, im Nieselregen um billiges Brot anzustehen. Der Laden lag eben günstig. Warum also weiter laufen und mehr bezahlen? Was im Gedächtnis haften blieb aber war die Hoffnungslosigkeit, die materielle und spirituelle Armut der Menschen, die dort standen. Der talgige Geruch alter Kleider, das zahnlose Lachen, die schorfigen Kindergesichter.

Das wird auch am 9. November 1989 so gewesen sein, zehn Jahre nach Thatchers erstem Wahlsieg, hundertfünfundfünfzig Jahre nachdem Engels genau dort seine Feldforschungen betrieb. (Manche Menschen sind auf eine merkwürdige Weise immun gegen die Prophezeiungen der großen Ideologien.)

Im britischen Fernsehen sah ich abends dann gemeinsam mit anderen Studenten aus Nordirland, England, Griechenland und Malaysia zum ersten Mal die Bilder der Menschen, die im Scheinwerferlicht trunken vor Freude über die Berliner Mauer kletterten. Ich dachte nicht an die Brotschlangen, sondern nur: Jetzt werden die Verwandten aus Leipzig und aus Dresden, aus Halle und aus Dobitschen bald meine Eltern in Stuttgart besuchen. Vielleicht sind sie dann ein wenig enttäuscht?

Ich kannte die Erwartungshaltung meiner Verwandten aus der DDR. Die billige Margarine, den Teestaub und die Bohnen in Tomatensoße, die an diesem Tag noch auf meiner Liste standen, hätten sie vermutlich kaum goutiert. Aber auch damals schon habe ich gespürt, daß es darauf letztendlich nicht ankommt.

Schließlich genoß ich das Privileg, an einer großen englischen Universität zu studieren. Ich durfte lesen, was ich wollte, und konnte mit meinen Kommilitonen ganz offen darüber diskutieren. Ich war nicht gezwungen, mein gesamtes Leben in Sömmerda oder Aue zu fristen. Dort mochte es zwar auch schön sein; aber es ist eben doch etwas anderes, wenn man am Samstagnachmittag ein Fußballspiel zwischen Manchester United und dem F.C. Liverpool sehen kann – und nicht zwischen der BSG Robotron und Wismut Aue.

Überhaupt, und das habe ich aus dem 9. November 1989 gelernt, ist niemand gezwungen, seine Freiheit einschränken zu lassen. Jeder Mensch kann um die Freiheit, die eigene und die der anderen, streiten: in Leipzig und Berlin, in Moskau und auch in Manchester. Die Geschichte ist keineswegs beendet, ihr Ausgang bleibt weiterhin offen ...


 
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