© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Jetzt kommt die Wiedervereinigung!
Christa Braun

Mit heißem Herzen sind wir am 10. November ’89 abends von Stuttgart nach Berlin, in meine Geburtsstadt, geflogen, wollten dabeisein, wenn sich dort Geschichte abspielte, gute, glückliche Geschichte, lang ersehnte.

Wochenlang hatten wir fast rund um die Uhr alle Berichte über Flüchtlingsströme und Riesen-Demos buchstäblich eingesogen, und am vorigen Abend nun war ein Wunder geschehen: Ein unscheinbarer Herr Schabowski trat mit einem Zettel in Ost-Berlin an ein Mikrophon und sagte fast beiläufig, die Grenze könne ohne Formalitäten passiert werden. Einfach so! Nichts in seinem Tonfall ließ aufhorchen, und doch war mit diesem Augenblick die Mauer gefallen! Wie viele andere auch, bekamen wir die historische Dimension seiner Worte erst nach einigen Sekunden mit: "Wahnsinn! WAHNSINN! Die Mauer ist weg! Jetzt kommt die Wiedervereinigung!"

Am 11. und 12. November waren wir ununterbrochen auf den Beinen, immer mittenmang! Es war bitterkalt – egal. Hunger und Durst kamen nicht auf – keine Zeit!

Vor den Banken standen endlose Schlangen, denn jeder Besucher von drüben erhielt hundert Mark Begrüßungsgeld. Es gab Kaffeestände, an denen man auch mit Ostgeld bezahlen konnte, Privatleute schenkten heißen Kaffee gratis aus, Blumenhändler verschenkten Sträuße. U- und S-Bahnen waren ständig überfüllt, aber keiner meckerte, keiner schubste, Fahrkarten gab es nicht.

Wir blieben an der Mauer, die schon an mehreren Stellen Löcher hatte. Auf unserer Seite hackten "Mauerspechte" mit Hammer und Meißel verbissen auf das Monstrum ein. Wo schon größere Löcher entstanden waren, stellten sich die Leute an, um hindurchzuschauen in das entfernte, eisige, feindliche Reich, das jetzt gerade dabei war, sich aufzulösen.

Oben auf der Mauer, am Brandenburger Tor, standen viele Vopos, unbewaffnet, schienen unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten, nahmen Blumen an, die man ihnen hinaufreichte. Unten stand eine dichte Menschenmenge. Alle schauten hinauf. Es war geradezu still. Niemand war in Eile. Die Menschen wirkten locker und froh, aber hochkonzentriert. Fremde Menschen lächelten sich kopfschüttelnd an, und immer wieder das Wort in jenen Tagen:Wahnsinn!

Die gemeinsame tiefe Freude und aufgewühlte Aufbruchstimmung, die innere Solidarität, waren so übermächtig verdichtet, daß ich mich geborgen, getragen und unerschöpflich lebendig fühlte.

Wir beobachteten tief zufrieden, wie am Bahnhof Wollankstraße die Mauer abgerissen wurde, standen mit anderen lange in der Kälte, fixierten Mauer und Vopos so angespannt, als könnten wir durch die Intensität unserer Blicke die Arbeit beschleunigen.

Wir waren dabei, als der Übergang am Potsdamer Platz aufging, ungläubig lächelnde, lachende, weinende, gesammelte Menschen hindurchströmten, ihre DDR-Ausweise in der Hand. Sie wurden empfangen von winkenden, rufenden, lachenden Landsleuten, die Blumen, Schokolade, Kaffee bereithielten, die fröhlich auf Trabidächer klopften und immer wieder für sich murmelten oder anderen zuriefen: "Wahnsinn!"

Diese beiden Tage sind im Rückblick ein kostbarer Schatz, ein unbeschreiblich schönes Erlebnis. Es war, als hielte die Welt den Atem an, als hätten sich damals in Berlin alle guten Kräfte konzentriert, als sollten diese Tage der Anfang für ein glückliches, brüderliches Deutschland werden.


 
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