© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Mauerfall in Leningrad
Wolf Deinert

Im Oktober / November 1989 wohnte ich bei Ikonenmalern in Leningrad, Arkadi und Natascha, in der Petrogradskaja Nr. 5 im Petrogradsker Bezirk. An den 9. November kann ich mich gut erinnern. Tagsüber wurde ich in den verschiedensten Filmstudios vorstellig, um Dokumentarfilmrechte oder auch Kooperationsverträge für Neuproduktionen für unsere frische gegründete Berliner Filmproduktionsfirma zu bekommen.

Arkadi und Natascha ging es relativ gut. Er war etwa Ende dreißig, sie 32 Jahre alt. Da sie ausschließlich im Auftrag von Kirchen arbeiteten, hatten sie regelmäßige Einkünfte. Sie wohnten mit ihrer Tochter in einer eigenen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Altstadt, in einem ehemals herrschaftlichen, nun aber recht verlotterten Haus mit Küche und Bad, in dem sich sogar ein funktionierender Gasofen befand. Ihr ganzer Stolz war ein alter Moskwitsch unbestimmbarer Farbe, mit unzähligen Beulen, den Natascha fuhr. Arkadi hatte vor solch weltlichem Teufelszeug wie Autos und Waschmaschinen einen Höllenrespekt.

Sie schliefen bis morgens um elf, frühstückten, was sich noch im Kühlschrank auftreiben ließ, tranken ein oder zwei Bier dazu, um das Gehirn anzuwerfen, und setzten sich gegen drei in den alten Moskwitsch, um gemächlich zu einer der Kirchen zu tuckern. Dort kauerten sie dann, wie einst der legendäre Andrej Rubljow, auf Holzgerüsten unter den Deckengewölben, um sie Quadratmeter für Quadratmeter mit Ikonen und Bibellandschaften zu verzieren.

In der Regel trafen wir alle erschöpft gegen acht Uhr abends in der Petrogradskaja ein. Jeder brachte etwas zu essen mit und stellte es auf den Tisch. Wir aßen und erzählten aufgekratzt von den Abenteuern des Tages. (Ich hatte inzwischen soviel Russisch gelernt, daß nicht mehr jeder Versuch Lachsalven hervorrief!). Irgendwann erschien wie von Zauberhand eine Flasche mit Schraubverschluß (den die Schnapsfabriken den besseren Wodkasorten spendierten) auf dem Tisch, an der Tür pochte und kratzte es, Freunde strömten herein, die ebenfalls Wodkaflaschen mitbrachten (oftmals leider nur mit Abreißverschluß, der von minderer Qualität kündete, dafür aber den stärkeren Kater versprach!).

Immer hatte einer eine Gitarre dabei, es wurde gemeinsam gesungen und getrunken bis früh um fünf, wer die Kraft hatte, schleppte sich dann zur Tram, wer nicht, ließ sich dort, wo er gerade saß, mit einem abschiednehmenden Blick auf den Teppich fallen und sank Morpheus in die Arme.

Der 9. November war besonders anstrengend gewesen. Ich hatte eine Filmvorführung gesehen, deren Rechte ich gerne mit nach Deutschland genommen hätte. Es war ein schräg und aufmüpfig geschnittener Dokumentar-Film mit traumartigen Fantasy-Szenen. Er hieß ganz schlicht nur "1939" und zeigte die historische Situation im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Ich erfuhr in einer hastig geflüsterten Vorbemerkung, daß der Film in der Sowjetunion noch nicht gezeigt werden durfte, wenngleich sie schon "das Recht hätten", die Rechte ins Ausland zu vergeben.

Nach den ersten zehn Minuten wußte ich auch, warum. In harten Schnitten wurde der Aufstieg Hitlers gezeigt. Parallel dazu in harten Schnitten der Aufstieg Stalins. Die Sequenzen begannen, sich immer ähnlicher zu werden. Da sah man den einen, den braunen Führer, den eine Jugend begeistert anhimmelte, ohne zu wissen, daß bereits Hunderttausende Deutscher in Konzentrationslagern saßen. Und den anderen, dem ebenfalls unzählige Pioniere mit Glanz in den Augen begeistert zuwinkten. Auch von ihnen wußte niemand, daß bereits Millionen im Gulag saßen.

Über großen Plätzen mit Ehrentribühnen und viel Militär glitten pompöse Luftwaffenformationen vorüber. Mal bestanden sie aus Hakenkreuzen, mal aus fünfzackigen Sternen und symbolisierten den jubelnden Massen unüberwindliche militärische Macht.

Während die Diktatoren sich noch belauerten und feierten, war der braune mit seinen Figuren der schnellere gewesen. Ausbaden mußten die Bombenhagel die einfachen Leute, die Kinder, die Eltern, die Babuschkas.

Auch die jungen Leningrader Filmemacher wußten längst, daß sich Stalin und Hitler in gegenseitigem Einvernehmen Polen aufgeteilt hatten. Nach dem Anschauen des Filmes schwiegen wir alle etwas benommen. In der DDR wäre möglicherweise zu jener Zeit noch der Staatsanwalt eingeschritten.

Dieses Abenteuer erzählte ich meinen Maler-Gastgebern. Ich hatte mit einer alten VHS-Kamera ein Muster von der Leinwand abgefilmt, wo auf dem kleinen Kameramonitor der Ablauf mehr schlecht als recht erkennbar war. Die Kamera wanderte reihum, jeder wollte auch einmal ein paar Sequenzen des Filmes über den Beginn jenes schrecklichen Krieges ansehen, der schon machbar, wenn auch noch verboten, dennoch schon im Ausland verkäuflich war.

Es war gegen 23 Uhr, als es vernehmlich an der Wohnungstür meiner Gastgeber klopfte. Wir erwarteten keine Gäste mehr und verharrten erschrocken. Sahen wir nicht gerade einen verbotenen Film? Hatte der KGB mich beobachtet, verfolgt, um mich nun in flagranti bei "antisowjetischer Propaganda" zu ertappen? Waren mir nun zehn Jahre Sibirien oder noch schrecklicheres sicher?

Ich versteckte, so gut es ging, das "Beweisstück", die VHS-Kamera, und Arkadi schlufte schweren Herzens zur Tür, an der es immer vernehmlicher klopfte. Er öffnete, und draußen stand ein Pulk von etwa zehn Leuten, Frauen und Männern, lauter ihm unbekannte Gesichter, die laut nach meiner Person verlangten. Schweren Herzens ließ er sie ein. Ich drehte mich um und erkannte – Filmleute und deren Freunde, die mir am Tage das gerade versteckte kopierte Corpus delicti original auf der Leinwand vorgeführt hatten. Ich hatte ihnen meine Leningrader Adresse gegeben.

Nun war ein – für alle – unvorhergesehenes Ereignis eingetreten. Das sowjetische Fernsehen, so sprudelten sie heraus, habe am Abend den Mauerfall in Berlin gezeigt und – ihn mit optimistischen Kommentaren begrüßt!

Daraufhin bewaffneten sich die Filmleute mit Wodkaflaschen und Würsten, um diesen Überfall wiederum mit einem weiteren Überfall auf den einzigen Deutschen, der ihnen in der nächsten Umgebung bekannt war, zu vergelten.

Ich war erleichtert, daß der Schierlingsbecher sich in weniger gefährliche Wodkafüllungen verwandelt hatte, aber den Grund dafür wollte ich trotzdem nicht glauben.

Trotz aller Beteuerungen hielt ich es für einen Spitzentrick irgendwelcher im Hintergrund wartenden Fernsehleute, um mit einer versteckten Kamera und Mikrophonen einen jungen deutschen Narren der Öffentlichkeit vorzuführen. Als etliche Wodkaflaschen dann meine Bedenken weggespült hatten, ließ ich mich zögerlich auf die wilden Phantasien der Filmleute ein, die mit zunehmendem Wodkaspiegel immer weiter ins Kraut schossen: "Nun kommt bei euch bald die Wiedervereinigung, dann habt ihr da in ganz Deutschland Demokratie. Und dann müßt ihr uns hier helfen."

Die Wiedervereinigung? Diese Russen mit ihrer verrückten Phantasie! Ich erklärte ihnen, daß weder die SED im Osten noch die SPD im Westen die Wiedervereinigung wollten, und daß auch in der CDU sicher gegen solche Abenteuer die größten Bedenken bestünden! "Mir würde es schon reichen", sagte ich, "wenn das mit dem Berliner Mauerfall wahr wäre."

Es war etwa gegen Mitternacht, als das Telefon klingelte. Der Berliner Filmregisseur Hartmut Jahn rief mich an aus Berlin. In Berlin war es ja erst 22 Uhr. Ob ich es schon wüßte: Die Mauer sei heute gefallen. "Hier kommen Schlangen mit Trabis durch die Mauer gefahren. Weißt du, was du hier verpaßt?"

Nun erst glaubte ich das mit dem Mauerfall. Auch wenn es schwer vorstellbar war. Aber verpaßt hatte ich nichts. Direkt vor mir, in Leningrad, war schon eine weitere Mauer gefallen.


 
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