© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Freibier für unsere Gäste
Friedrich Trieschmann

Bis zum 10. November 1989 hatte ich Urlaub und hatte für diesen Tag einen Grunewaldspaziergang geplant. Am Vorabend hatte ich von der sich abzeichnenden Grenzöffnung im Fernsehen erfahren und mochte es gar nicht recht glauben. So plante ich am früheren Morgen, den Sektorenübergang Invalidenstraße zu besichtigen.

Der Bus zum S-Bahnhof Grunewald war voller als gewöhnlich. Die S-Bahn fuhr statt mit vier schon mit sechs Wagen, die alle, einschließlich der Stehplatzflächen, gut besetzt waren. Auf der Fahrt unterhielt ich mich mit vier ca. 16jährigen Ostberliner Mädchen, die mir erzählten, sie seien "einfach so mal losgefahren" und "am Übergang ist es schrecklich aufregend gewesen".

Am Lehrter Stadtbahnhof wurden immer die Zugfahrer gewechselt. Es durfte ja kein Nicht-Reichsbahner ins "Heilige Land der Werktätigen" fahren. In dieser Zeit konnte bequem aus- und eingestiegen werden. Es verließen ca. 80 Personen den Zug und begaben sich fast ausschließlich zum Übergang. Die Straße und die Gehwege waren bis an die zwei Meter dicke Betonmauer in einer Länge von ca. 250 Meter von neugierigen Menschen dicht bevölkert. Ein ca. 2,50 Meter breiter Streifen wurde jedoch immer für Ankommende freigehalten. Es kamen nur Ostwagen und sehr vereinzelt Fußgänger.

Jeder einzelne Wagen wurde laut und freudig bejubelt und beklatscht. Die Wagen mußten Schritt fahren. Überwiegend waren die Scheiben heruntergelassen, und die Mitfahrer drückten die ihnen aus der Menge entgegengestreckten Hände. Bei den nötigen kurzen Stopps sprangen Fahrer heraus, rissen die Arme hoch und lachten, brüllten oder weinten vor Freude. Es war eine euphorische Wiedersehensfreude entstanden.

Die vorbeikriechenden Wagen waren deutlich einzuordnen. Der weitaus überwiegende Teil war normal besetzt, andere kamen mit übergroßer Ladung auf den Dachgepäckträgern und vollgestopft bis an die Wagendecke.

Bei meiner Ankunft hatte eine Berliner Brauerei bereits einen Stand errichtet. Auf einem Spruchband stand: "Freibier für unsere Gäste."

Gleich nach meiner Ankunft schob ich mich in Richtung Mauer durch die sich meist bewegenden Menschen. Dabei sah ich eine Gruppe von Offizieren (Volksarmee, Besatzer-Freunde, Polizei-West) und wenigen beteiligten Zivilisten, die sich alle eifrig und freundlich unterhielten. Sie standen alle etwa 15 Meter von der Mauer entfernt, die neugierigen Zuschauer ließen ihnen einen Freiraum von etwa zwei Meter (rundherum). Zu Zeiten der Teilung Berlins sprach man in Berlin von "wir hier" (Westler) und "die drüben".

Mir war beim Gang zur Mauer aufgefallen, daß ein einsamer Volksarmeeoffizier weit weg von der Mauer Richtung Westen stand. Sofort interessierte mich, was der wohl "bei uns" wollte. Ich schob mich also zu ihm hin und, siehe da, er stand etwa 20 Zentimeter hinter der weißen Grenzlinie auf "seinem" Land.

Inzwischen hatte sich auch das (West-) Volk an die völlig neue Lage gewöhnt. Man ging nicht nur bis an die ca. zwei Meter dicke Betonwand heran, um sie anzufassen. Es begannen einige junge Leute auf die gut zwei Meter hohe Mauer heraufzuklettern, erst vereinzelt und kurzfristig, dann für immer längere Zeit. Da nutzte noch eine barsche Anordnung eines Volksarmisten, und man sprang wieder Richtung Westen von der Mauer.

Da sonst nichts geschah, stiegen immer mehr Menschen auf die Mauer, so daß der Platz darauf langsam knapp wurde. Da halfen auch keine barschen Befehle mehr, das "Westvolk hielt die Stellung". Nach einigen Minuten erschien eine Gruppe von ca. 10 Westpolizisten (ca. 200 m auf DDR-Gebiet!!!). Sie erhielten offensichtlich Anweisung, die Mauer zu räumen. Der mündlichen Anordnung, die Mauer zu räumen folgten nur wenige der "Mauerstürmer", der Rest wurde mit sehr mäßiger Gewalt von der Westpolizei vertrieben. Sofort kam eine Gruppe nicht sichtbar bewaffneter Volksarmisten, stellte sich auf der Westseite der Mauer in Einerreihe geschlossen auf, hakten sich mit den Armen ein und hielten sich am Koppelzeug des Nebenmannes fest. Da stand sie nun – die souveräne Volksarmee – ein Bild der Stärke und Entschlossenheit. Sie hatte die Lage fest in der Hand und war ein lohnendes Ziel für jeden Fotografen! (Wer kurz vorher die Mauerräumung gesehen hatte, konnte erhebliche Zweifel hegen.)

In dem weiter vom Mauerloch entfernten Teil gewahrte ich eine Dame mittleren Alters in einem sehr eleganten Pelzmantel. Sie sprach alle Fußgänger an, unterhielt sich freundlich mit ihnen und steckte allen etwas zu. Später konnte ich erkennen, daß es grüne 20-DM-Scheine waren.

Kurz darauf kam eine einzelne, großgewachsene junge Frau schluchzend an der Zuschauerfront entlang. Auch sie wurde von der Dame angesprochen. Dann lagen sich beide längere Zeit weinend in den Armen. Diese, und ähnliche Vorkommnisse, trieben auch mir Tränen der Rührung in die Augen. Sie zeigten die wirkliche Einstellung der Deutschen nach 40 Jahren künstlicher Trennung. (Danach erscheint das, nach meiner Meinung, dämliche Gequatsche des "Roten Schales" weltfremd und niederträchtig!)


 
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