© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/99 05. November 1999


Argwohn im Allgäu
Manuel Ochsenreiter

An diesen Tag erinnere ich mich noch sehr genau. Als damals 13jähriger hatte ich bei Gott andere Interessen als Politik und Nachrichtensendungen, dennoch war der 9. November 1989 der Zenit einer Entwicklung, die in meinem Westallgäuer Umfeld eher argwöhnisch als begeistert aufgenommen wurde. Denn auch hierher kamen die ersten DDR-Flüchtlinge aus Prag und Budapest. Können die überhaupt arbeiten? Müssen wir abgeben, gar teilen? Kommen sie jetzt alle "rüber" – zu uns? Stichwort: 100 Mark "Begrüßungsgeld"! Mauer wieder hoch!

Ich selbst war wenige Tage zuvor mit meiner Familie in Prag, sah dort den leergeräumten Hof der Deutschen Botschaft, durchgeschnittenen Drahtzaun, einen herumliegenden Kinderwagen, der zu rosten begann. Vom Fernsehen erinnere ich mich nur an mit jubelnden Menschen vollgepferchte Züge. Auf nach Westen.

Die Lehrer sprachen von "Strohfeuer", und man dürfe die Lage nicht "überbewerten", schließlich war und ist der 9. November der Tag des "Hitlerputsches", der "Pogromnacht", das sollten wir nicht vergessen bei "all dem Trubel". Bitte keine Fröhlichkeit und kein "Einheitsgesülze". Nein, wir sind nicht wieder wer, merkten wir uns. Sie haben sich alle geirrt, und das nicht zum ersten Mal. Heute machen sie Urlaub am Plattensee, weil es da "noch günstig" ist und "die Leute" so nett.

Nein, Begeisterung spürte ich keine, selbst Jahre danach wurde von CSU-Abgeordneten auf Aschermittwochsveranstaltungen der Mörtel für die "Mauer in den Köpfen" gerührt. Denn die Formel lautet: "Mehr Geld für ‚die‘ = weniger Geld für uns." Sie waren auf "unserer" Seite. Heute wohnen sie schick in Berlin und gehen auf dem ehemaligen Todesstreifen Sushi essen.


 
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