© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Politbüro beschloß 1956 die Vernichtung der Opposition
Planung für den Notstand
Werner H. Krause

Zweimal war die politische Situation in der ehemaligen DDR für große Teile der Bevölkerung brandgefährlich. Eines winzigen Funkens hätte es nur bedurft, um die Lage vollends zum Explodieren zu bringen. War noch der Volksaufstand im Juni 1953 den Parteioberen wie ein Schrecken in die Glieder gefahren und hatte deren Ohnmacht entlarvt, mit einer solchen Entwicklung fertig zu werden, die sie hinwegzufegen drohte, wenn nicht die Panzer der Russen sie vor dem Verlust der Macht bewahrt hätten, so fühlte man sich drei Jahre später angesichts einer erneuten politischen Krise wesentlich besser gewappnet.

Der Aufstand in Ungarn und die Unruhen in Warschau versetzten die SED-Führung in höchste Alarmbereitschaft. Es wurde ein Überschwappen der Ereignisse auf Ost-Berlin befürchtet, doch diesmal war man nicht gewillt, dem "Klassenfeind" die Initiative zu überlassen, sondern gedachte ihm zuvorzukommen, wie es auf der Tagung des Politbüros des Zentralkomitees der SED am 8. November 1956 beschlossen wurde. Das hierüber angefertigte Protokoll trägt die Bezeichnung 57/56 und wurde in dem Archivbestand des Politbüros aufbewahrt, der einen gesonderten Platz innerhalb des Zentralen Parteiarchivs der SED hatte. In Anwesenheit von Pieck, Ulbricht und Honecker trug als Berichterstatter Politbüromitglied Willi Stoph unter dem Tagungsordnungspunkt 5 vor, wie man sich gegenüber konterrevolutionären Umtrieben verhalten sollte.

Es wurde ein siebenseitiger Maßnahmeplan beschlossen, der mehrere Stufen eines beabsichtigten Vorgehens enthielt. Punkt 1 sah den gemeinsamen Einsatz von Volkspolizei, Kampfgruppen der Arbeiterklasse sowie Kräften des MfS vor, die vor allem Absperrzonen errichten und mit Wasserwerfern Demonstranten Einhalt gebieten sollten. Zum gleichen Zeitpunkt war jedoch auch schon an die Alarmierung der Nationalen Volksarmee gedacht, die in bestimmte Bereitstellungsräume einrücken, jedoch noch nicht eingreifen sollte. Allerdings wurde den Gruppenkommandeuren freigestellt, nach entsprechender Beurteilung der jeweiligen Lage von der eigenen Befehlsgewalt Gebrauch zu machen.

Die Stufe 2 beinhaltete den militärischen Einsatz der NVA gegen die Bevölkerung. Diskussionen über die Zweckmäßigkeit eines solchen Eingreifens der NVA hatten nicht stattzufinden, sondern die Aufgabe, so wörtlich, "ist unbedingt durchzusetzen". An die Kommandeure der Kampfverbände sowie an die Militärkommandanten besagte die Anordnung des Politbüros, daß sie ihren Sitz bei den Einsatzstäben der SED-Kreisleitungen und Bezirksleitungen zu nehmen hatten. Als Militärkommandant von Berlin wurde der spätere DDR-Innenminister Friedrich Dickel benannt. Die Übernahme der militärischen Gewalt in den größeren Städten der DDR sollte nur von solchen Offizieren vorgenommen werden, von denen unbedingte Treue zur Partei der Arbeiterklasse zu erwarten war.

In der dritten Stufe des Einsatzplanes ging es um das Eingreifen der sowjetischen Truppen in Deutschland auf ausdrückliche Anforderung seitens der Regierung der DDR. In einem solchen Fall wäre die Befehlsgewalt auf den Oberkommandierenden der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland in Wünsdorf übergegangen.

Internierungslager für 86.000 Oppositionelle

Da sich die Mitglieder des Politbüros über Bedeutung und Tragweite ihres militärischen Schlages gegen die eigene Bevölkerung sehr wohl bewußt waren, veranlaßten sie äußerste Geheimhaltungsmaßnahmen. Der Kreis der Eingeweihten sollte aktenkundig festgehalten werden. Von der eigentlichen Auslösung des Militäreinsatzes durften lediglich auf mündlichem Wege die Leiter der Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit sowie die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen Kenntnis bekommen. Am späten Nachmittag des 8. Novembers 1956 stimmten die Mitglieder des Politbüros über diesen Beschluß ab. Erwartungsgemäß gab es nur Ja-Stimmen. Die Führer des Arbeiter- und Bauernstaates hatten wieder einmal bekundet, daß es ihnen ausschließlich um die eigene Macht und nicht um das Schicksal von Arbeitern und Bauern ging.

13 Jahre darauf, 1969, erließ die SED-Führung eine Direktive zur Ausschaltung aller oppositionellen Kräfte im Lande. "Schlagartig, konspirativ und vorbeugend" sollten mehrere zehntausend als Staatsfeinde bezeichnete Personen in vorzubereitenden Lagern "interniert", "isoliert", "liquidiert" werden, wie es in der Direktive wörtlich zu lesen stand. Bis heute ist strittig, ob der von der Stasi verwendete Begriff "liquidieren" die physische Vernichtung der Betreffenden meinte. Vor den Gerichten darüber befragte ehemalige Stasi-Offiziere verweisen zumeist darauf, daß hierunter lediglich ein Unschädlichmachen verstanden werden darf, das seinerzeit eine Tötung beabsichtigt gewesen wäre, wird von ihnen in Abrede gestellt.

Der Plan zur Festsetzung oppositioneller Kräfte in der DDR wurde auf das sorgfältigste vorbereitet. Die dafür vorgesehenen Personen wurden in einem besonderen Kennziffersystem erfaßt. Es wurden Karteien angelegt, die eine genaue Identifizierung der Festzunehmenden enthielten; es gab Fotos von den Wohnungen, in welchen sie lebten, es existierten Karten, in welchen etwaige Fluchtwege aufgezeichnet worden waren.Jahr für Jahr wurden die Karteien ergänzt und erweitert, ständig nahm die Zahl der Namen darin zu. Ende 1988 enthielt diese Kartei annähernd 86.000 Namen. Darunter befanden sich Angehörige der Friedensbewegung, Mitglieder von Menschenrechts- und Umweltgruppen, sogenannte Reformkommunisten, die entsprechend dem Prager Frühling einen menschlichen Sozialismus anstrebten, alle aus politischen Gründen schon einmal Verurteilten, Ausreisewillige und viele andere, denen die SED eine feindlich-negative Einstellung zum Staate vorwarf. So unfaßbar es auch angesichts des sich im Herbst 1989 vollziehenden Zusammenbruchs der DDR erscheinen mag, so waren Honecker und Mielke noch im Oktober gewillt, den Plan zur Isolierung jener Oppositionskräfte, welche sich anschickten, die Bastionen des Regimes zum Einsturz zu bringen, in die Tat umzusetzen.

Sowjetarmee hatte Befehl, Neutralität zu bewahren

Entsprechende Fernschreiben gingen an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, in ihnen war von dem eingetretenen "Spannungsfall" die Rede, der ein umgehendes Handeln erforderlich machen könnte. Erst nachdem die sowjetische Armee wissen ließ, daß eine derartige Maßnahme nicht ihre Unterstützung finden würde, kam der abscheuliche und verbrecherische Plan nicht zur Ausführung. Die Macht lag jetzt nicht länger bei den SED-Größen, sondern sie war in die Hände des Volkes übergegangen.


 
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