© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Einheit als Tagesordnung
Kai Guleikoff

Die Öffnung der Mauer und der Sicherheitsanlagen an der innerdeutschen Grenze wurde im Jargon der NVA-Grenztruppen mit "Fluten" bezeichnet. Ein anschaulicher Vergleich. Allein in West-Berlin sind am 11. November 1989 über 100.000 Besucher aus der DDR von der Polizei geschätzt worden. Millionen nutzten das erste Wochenende nach der Grenzöffnung zu einem Kurzbesuch in Westdeutschland. Auf den Straßen bildeten sich Staus von über 50 Kilometern Länge. Obwohl weitgehend auf Kontrollen verzichtet werden mußte, hatten die DDR-Bürger mit unvergleichlicher Geduld auf den Volkspolizeiämtern nach der Erteilung eines Visums angestanden und anschließend in den Staatsbanken zum Umtausch von 15 DDR-Mark in 15 DM pro Person Reisegeld. Mehr Devisen konnte die DDR ihren Bürgern nicht zur Verfügung stellen.

Infolge der Reisewelle nahm die Zahl der Demonstrationsteilnehmer deutlich ab. Dafür versuchten die SED-Bezirksleitungen ihre Partei-Aktiven zu mobilisieren. Am 11. und 12. November 1989 versammelten sich in Ost-Berlin 60.000, in Dresden 50.000 und in Leipzig etwa 10.000 Genossen. Auch hier trat eine Radikalisierung der Forderungen nach einem Parteiumbau ein. Über 100.000 SED-Mitglieder hatten seit Beginn der Fluchtbewegung die Staatspartei verlassen.

Am 13. November wurde Hans Modrow auf der 11. Tagung der Volkskammer zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt. Modrow war der Mann Gorbatschows und hatte Anfang November 1989 in Dresden an Demonstrationen gegen Krenz teilgenommen. Die Absicht, die alte Führung auszuschalten, wurde nicht mehr verschleiert. Die 89 Aufnahmestellen für Flüchtlinge im Bundesgebiet hatten ihre Auslastung erreicht. Nach Informationen aus kirchlichen Kreisen der DDR, bestand bei über einer Million Bürgern die Absicht zur Übersiedlung nach West-Berlin oder Westdeutschland. Die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland geriet in Gefahr.Am 28. November 1989 präsentierte Kohl sein Zehn-Punkte-Programm zur Herstellung der Einheit.


 
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