© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/99 12. November 1999


Politik von unten
von Poul Engberg

Beobachter, die sich mit den deutschen Verhältnissen auskennen, haben dann und wann behauptet, die Gemeinsamkeit der Deutschen sei nicht etwa eine Gemeinschaft des Volkes, sondern nur eine Gemeinsamkeit der Sprache. Die gemeinsame Sprache allein ist aber für ein volkliches Staatswesen nicht tragfähig – davon zeugt die Existenz der deutschsprachigen Länder Schweiz und Österreich. Ein volklicher Staat setzt eine historisch gewachsene Gemeinschaft voraus, und eine solche war das durch Jahrhunderte hindurch staatlich zersplitterte deutsch-römische Reich nicht. Die Kaisermacht hatte eher symbolischen Charakter und reichte im übrigen weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Erst nach den napoleonischen Kriegen verbreitete sich der Gedanke, die Deutschen in einer nationalen Einheit zu sammeln. Aber die nationalliberale Bewegung bestand im wesentlichen aus Studenten, Akademikern und Angehörigen des wohlhabenden Bürgertums; sie hatte kaum Wurzeln im einfachen Volk. Das zeigte sich 1848, als ganz Westeuropa sich erhob. Der Reichstag, der sich in Frankfurt versammelte, um eine freie Verfassung für ein vereintes deutsches Volk auszuarbeiten, bestand fast nur aus akademisch Gebildeten. Für Dänemark brachte damals der Führer der Nationalliberalen, Orla Lehmann, die Sicht dieser Klasse auf den Begriff: "Unser Land sollte von den Begabten, den Gebildeten und den Wohlhabenden regiert werden."

Wenn in Dänemark als dem einzigen Land Europas die Erhebung von 1848 glückte, so war das gerade nicht den Nationalliberalen zu verdanken. Sondern in den Jahren zuvor war unter Bauern, kleinen Handwerkern und anderem "einfachen Volk" eine spontane Aufruhrbewegung entstanden, die sich – christlich sozial und politisch zugleich – gegen die Geistlichkeit, die Grundherren und die Staatsbeamten richtete. Schon vor 1848 organisierte sich diese Bewegung in der Bondevenneselskab, der "Gesellschaft der Bauernfreunde". Sie trat zur Wahl zum verfassunggebenden Reichstag von 1848 an, trotz starker Widerstände seitens der Akademiker und anderer Gruppen der Oberklassen, und konnte mehrere Abgeordnete ins Parlament entsenden. Es war diese Bewegung, in der N.F.S. Grundtvig mit seiner "volklichen Aufklärung" eine Basis fand, und so entstanden aus ihr heraus nach 1864 selbstorganisiert und von unten her freie Kirchen, Freischulen, Volkshochschulen und Versammlungshäuser. Von solchen Voraussetzungen her gewann das Volk die Kraft, die Genossenschaftsbewegung aufzubauen, die Landwirtschaft umzuorganisieren, die Demokratie durchzusetzen und nach der militärischen Niederlage gegen Preußen 1864 überhaupt einen Glauben an die Zukunft zu gewinnen. Das alles kam von unten, und dadurch unterscheidet sich das dänische Volk vom übrigen Europa. Von daher rührt auch die in Dänemark verbreitete Skepsis gegenüber der Europäischen Union als einer Herrschaft von oben.

Nach dem Fiasko, das die Nationalliberalen 1848 hingegen in Deutschland erlebten, war es Bismarck, der ihre Ideen aufgriff und mittels dreier Kriege verwirklichte. Er vereinte allerdings nur das "kleinere" Deutschland, um Preußen herum, und schloß damit Österreich aus. Es erhielt eine schicksalshafte Bedeutung für die Deutschen, daß ihnen damit klar vor Augen geführt wurde, das nationale Ziel sei nicht durch Parlamentsbeschlüsse zu erreichen, sondern nur auf militärischem Wege. Nationalgefühl und Militarismus wurden für die Deutschen zwei Seiten ein und derselben Sache. Der italienische Weg zur politischen Einheit verlief in ähnlichen Bahnen. Es ist daher nicht zufällig, daß die Geschichte dieser beiden Länder in unserem Jahrhundert einen Hitler und einen Mussolini hervorbrachte mit ihren Nationalismen betont militaristischer Art. Sogar gutwillige und wohlmeinende Deutsche haben es oft schwer, diesen Zusammenhang zu erkennen. In einer christlichen Volkshochschule in Ostfriesland hingen in den sechziger Jahren Porträts von Luther, Goethe und Bismarck nebeneinander. Als ich den Schulleiter fragte, wie der letztere in eine so gute Gesellschaft habe kommen können, antwortete er, es sei doch Bismarck gewesen, der das deutsche Volk vereint habe. "Ja aber wie?", fragte ich zu seiner Verwunderung.

Die disziplinierende Haltung durch die Verbindung von Militarismus und Nationalgefühl verstärkte sich im lutherischen Preußen und in Norddeutschland dadurch, daß der Bevölkerung über Kirche, Schule und Bibel auf der Grundlage von Paulus eingehämmert wurde, jede Obrigkeit sei von Gott eingesetzt, und daher sei man ihr zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet – sogar dann, wenn befohlen werde, Kinder, Frauen, Juden und andere mehr oder weniger unschuldige Menschen zu erschießen. Das Wort von Paulus führte während der großen Kriege dazu, daß einfache Soldaten an den fürchterlichsten Untaten teilnahmen, und es wurde danach als Entschuldigung von denen verwandt, die die Verbrechen angeordnet hatten – denn auch sie waren ja nur den Befehlen gefolgt, die sie von oben erhalten hatten.

Im Gegensatz dazu verbreitete sich von England her eine andere Einstellung. Wenn die Regierung etwas befiehlt, das unmenschlich ist und deinem Gewissen widerspricht, so hast du dafür zu sorgen, daß diese Regierung abgesetzt wird.

Leider führte die Niederlage von 1945 nicht zu einer radikalen Selbstbesinnung in der deutschen Bevölkerung in Richtung auf eine Neubewertung des Nationalen. Damals gab ich auf Aufforderung eines Stuttgarter Verlags ein Buch über Grundtvig auf deutsch heraus, in dem ich der Hoffnung Ausdruck verlieh, die Deutschen würden ebenso wie die Dänen nach der Niederlage von 1864 verstehen lernen, daß das, was an militärischer und politischer Macht nach draußen hin verloren wurde, im Inneren wiedergewonnen werden könne, nämlich als geistige Lebenskraft und volkliche Verantwortung. Sowohl Einzelmenschen als auch Völker lernen ja mehr aus Niederlagen denn aus Siegen.

Meine Hoffnung war vergeblich. Die Westmächte brauchten nach dem Krieg ein starkes Westdeutschland als Bollwerk gegen die Sowjetunion, mit der man zwar alliiert gewesen war, die man aber faktisch als den Hauptfeind ansah. Denn ihr System bedrohte das System des freien Marktes, das die Existenzgrundlage für die Waffenfabrikanten, Industrie- und Großkonzerne, Finanzfürsten und Kapitalisten des Westens war. Es war der Westen, der die Mauer schuf, indem er erst ökonomisch und dann politisch die westlichen Besatzungszonen von der russischen isolierte. Das führte zur Gründung der Bundesrepublik und hernach konsequenterweise der DDR. Adenauer erkannte sogleich die politischen Möglichkeiten, die darin lagen, daß ein demokratisches Westdeutschland die Gleichstellung mit den Westmächten erreichen und mit einer solchen neuen Perspektive zugleich das Grauen der Konzentrationslager etwas in den Hintergrund schieben könne. Wenn man schon kein "Neuropa" unter deutscher Oberhoheit bekommen hatte, so könnte man vielleicht ein Europa bekommen, in dem ein demokratisches Westdeutschland mit dem Westen auf gleichem Fuß verkehrte. Bis in Kohls Zeit mußte man dabei natürlich mit Vorsicht auftreten, aber es bedeutete doch eine Erleichterung für Politiker und Bevölkerung, im Interesse eines neuen Ziels das Schuldgefühl aus der Nazizeit loswerden oder doch an den Rand schieben zu können. Die Mitgliedschaft in Nato und EG zeugte vom Sieg dieses politischen Konzepts. In der DDR hingegen identifizierte man die ganze Nazi-Periode mit der kapitalistischen und westlichen Gesellschaftsordnung. Indem man diese abschaffte und durch den gerechten Sozialismus ersetzte, standen Politiker und Bevölkerung auch hier mit sauberen Händen da.

Eine volkliche und nationale Selbstüberprüfung wurde so ersetzt durch eine wirtschaftliche, politische und militärische Machtstellung im Bündnis mit den Westmächten bzw. im Osten mit dem Sowjetsystem, das ja mit historischer Gewißheit in eine lichtere Zukunft führen werde. Die Entnazifizierung in Westdeutschland blieb eine oberflächliche Angelegenheit, die nur einige markante Nazis traf; aber nicht die Seele des Volkes. Beamte, Richter und Polizisten wurden bald wieder in ihre alten oder in neue Stellungen eingesetzt.

Die dänische Tageszeitung Krite l igt Dagblad berichtete unlängst über eine westdeutsche Kleinstadt, in der der Künstler Gradl geboren war und später lebte. Er war Hitlers Lieblingsmaler gewesen, hatte regelmäßigen Umgang mit Hitler, Göring und Goebbels und wurde daher in der NS-Zeit Ehrenbürger seiner Geburtsstadt. Durch die Entnazifizierung kam er hindurch, indem er sich zum "unpolitischen Künstler" erklärte. Als nun ein Autor aus derselben Stadt in einem Buch diese unbehagliche Geschichte beschrieb, wandten sich die Verantwortlichen wie auch die Bevölkerung der Stadt verärgert gegen ihn und verfolgten ihn auf grobe Weise.

1989 fiel die Mauer, und das Sowjetsystem brach zusammen, so daß die beiden deutschen Staaten sich politisch vereinigen konnten. Aber eine volkliche Wiedervereinigung wurde daraus nicht. Denn diese setzt eine volkliche und historische Gemeinschaft geistiger Art voraus. Und da eine solche sich nach 1945 in Westdeutschland nicht hatte herausbilden können, konnte man die Ostdeutschen auch nicht einladen, sich dieser Gemeinschaft anzuschließen. Fünfzig Jahre unterschiedlicher Meinungsbildung und Erziehung können nicht einfach weggezaubert werden, wenn die Menschen keinem lebendigen poetischen und volklichen Traum von einer menschlichen Gemeinschaft begegnen, der eine gemeinsame Politik tragen kann.

Die Ostdeutschen begegneten statt dessen nur einem Markt- und Wettkampfdenken sowie einer EU-Politik, deren Ziel eine größere wirtschaftliche, politische und militärische Macht für Westeuropa ist. Ihre Erwartungen wurden nur hinsichtlich dessen angesprochen, am wirtschaftlichen Wohlstand teilzuhaben – ein Ziel, das sie zehn Jahre später immer noch nicht erreicht haben. Dafür wurde ihnen eine Arbeitslosigkeit von bislang unbekanntem Ausmaße beschert. Und die Westdeutschen schauen mit Herablassung und einem Anflug von Verachtung herab auf die "Ossis", die sich für die Ellenbogengesellschaft so wenig eignen. Mißgunst und Mißtrauen sind die Früchte des Mangels an volklicher Gemeinschaft.

Die offene Frage ist, ob Deutschland sich – zusammen mit der ganzen EU – auf dem richtigen Weg befindet. Ja, wir kämpfen doch für das beste und größte Ziel, für Demokratie und Menschenrechte in Europa und der ganzen Welt, wird man antworten. Aber ist dieser Kampf nicht eigentlich ein Kulturimperialismus, der in die Fußstapfen des früheren westlichen Kolonialismus tritt? Demokratie und Menschenrechte werden im Sinne des westlichen Individualismus ausgelegt, der sich in der Folge von Renaissance und Reformation verbreitete. In der Welt leben aber unzählige Völker, deren Lebensanschauung und Menschenbild diesen Individualismus nicht enthält, weil ihre Lebenssicht den Stamm, den Klan, das Dorf oder die Götter zum Ausgangspunkt nimmt. Das gilt nicht nur für Asien, Afrika und Südamerika, sondern auch für das orthodoxe Rußland und Osteuropa. Würde man nur Dostojewskij aufmerksamer lesen, so würde man auch im Westen das zu respektieren lernen.

Statt dessen behaupten wir im Westen pharisäisch, unser Individualismus sei zusammen mit Marktwirtschaft und Menschenrechten als heiliger und universeller Wert allen Völkern der Welt aufzuzwingen – "so oder so". Das ist nicht nur Kulturimperialismus und pharisäisch, sondern führt zu politischem und militärischem Imperialismus, wie wir ihn auf dem Balkan erleben. Dort hat die Nato unter Umgehung der UN und des gültigen Völkerrechts nach der jesuitischen Parole vom Zweck, der die Mittel heilige, um des Friedens und der Menschenrechte willen Serbien zerbombt und unschuldige Menschen getötet. Ein solcher Jesuitismus kann niemals zum Frieden führen.

Die gemeinsame EU- und Nato-Politik auf dem Balkan ähnelt auf bedenkliche Weise der österreichisch-deutschen Außenpolitik, die zum Ersten Weltkrieg führte, sowie Hitlers Allianz mit dem faschistischen Kroatien, die die Massenausrottung von Serben nach sich zog. Nicht zufällig war Deutschland das erste Land, das das neue selbständige Kroatien anerkannte – ohne die Rechte der serbischen Minderheit zu sichern, die damit in den Aufruhr getrieben wurde.

Selbstverständlich mußte man Milosevics Vorgehen gegen die Kosovo-Albaner entgegentreten. Aber ernsthafte Verhandlungen mit Rußland und Serbien im UN-Sicherheitsrat hätten zweifellos zu einem weniger problematischen Ergebnis geführt, als man es nun mit Bombardierungen erreicht hat.

Der Fall der Mauer vor zehn Jahren wurde mit Jubel und der Hoffnung auf eine lichtere Zukunft begrüßt. Aber wenn er nur den Weg eröffnen sollte, mit allen – auch militärischen – Mitteln das individualistische Menschenbild und die egoistische Marktwirtschaft des Westens zu verbreiten, wäre das ein Verlust für die Menschheit. Wenn der Westen der Menschheit keinen besseren Mythos anzubieten hat als denjenigen der Produktion, des Konsums und des Individualismus, kann der Fall der Mauer eine wachsende Ratlosigkeit und den Mangel an menschlicher Identität nach sich ziehen. Haben die "Ossis" vielleicht dafür ein Gespür? Wenn wir hingegen demütig versuchen, von Osteuropa etwas über die Lebensnotwendigkeit der menschlichen Gemeinschaft zu lernen, und die Kulturen achten, die auf diesem Mythos aufbauen, könnte der Fall der Mauer einen Fortschritt für den Frieden zwischen allen Völkern bedeuten.

 

Poul Engberg, 93, eine der namhaftesten Persönlichkeiten der dänischen Folkehøjskole-Bewegung, wirkte als Volkshochschullehrer und -leiter sowie als Priester kirchenfreier Gemeinden. Er schrieb Bücher über Grundtvig, die Mythologie des Nordens und volkliches Denken. Seine besondere Aufmerksamkeit für Deutschland ist geprägt durch den dänischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Der Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors der Zeitschrift "wir selbst", 3/1999, entnommen.


 
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