© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Bundestag: Aktionskünstler polemisiert gegen Widmung des Reichstages an das "Deutsche Volk"
Das Volk abschaffen
Dieter Stein

"Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben. (...) Damit gilt das Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk."

Präambel des Grundgesetzes

Im Berliner Reichstag plant ein Künstler namens Hans Haacke im Auftrag des Deutschen Bundestages eine Installation. In der Mitte des nördlichen Lichthofes, eines Innenhofes des Reichstagsgebäudes, soll ein überdimensionaler Holztrog 6,80 m in der Breite, 20,80 m in der Länge und 30 cm in der Höhe errichtet werden. In diesen Trog sollen die 669 Bundestagsabgeordneten jeweils einen Zentner Heimaterde kippen. Die in den 30 Tonnen Erde enthaltenen Samen sollen "ohne gärtnerischen Eingriff" ein Biotop ergeben.

Beim Ausscheiden eines Abgeordneten, insbesondere nach jeder Legislaturperiode, soll der Komposthaufen angegraben werden. Haacke: "Beim Ausscheiden von Abgeordneten wird eine ihrem eingebrachten Anteil entsprechende Erdmenge entfernt. Neugewählte Parlamentsmitglieder sind aufgefordert, ihrerseits einen Beitrag zum Erdvolumen und damit zur Vegetation im Lichthof zu leisten." Wir sehen schon frischgebackene Abgeordnete mit Eimer und Schippe den Wallot-Bau betreten, um in Gummistiefeln ihren Einstand zu geben.

Die Installation trägt zudem dem Stand modernster Kommunikation Rechnung, indem eine "statisch auf den Hof gerichtete Kamera mit ISDN-Anschluß" täglich das neueste Bild des Biotops ins Internet übeträgt, so daß sich jede "Veränderung im Hof gleichsam im Zeitraffer verfolgen läßt", so der Kunstprofessor in seinem Exposé.

Kernpunkt der erdigen Reichstags-Deponie ist jedoch die Einlassung eines Schriftzugs aus 1,20 m großen Leuchtbuchstaben, die beim Blick in den Hof hell erstrahlen sollen. "Der Bevölkerung" steht dort die Widmung zu lesen – im Kontrast zur Inschrift des Reichstages, die das Gebäude und das Parlament "Dem Deutschen Volke" widmet.

"Warum nicht?" könnte man fragen. Nun handelt es sich dabei aber nicht um eine gutgemeinte Wortspielerei ohne größeren Tiefsinn, sondern Haacke will mit seiner Widmung die seiner Ansicht nach "nationalistisch aufgeladene" Widmung des Reichstages neutralisieren. Das Wort "Volk" habe in Deutschland eine unrühmliche Tradition, doziert der in New York tätige Künstler, als besonders bedenklich erschien ihm, daß noch 1989 die Demonstranten in Leipzig und Ost-Berlin riefen: "Wir sind ein Volk!"

Haacke meint, mit ihrem Beitrag würden die Abgeordneten zum Ausdruck bringen, daß sie den "Interessen der ganzen Bevölkerung" dienen und sich zur "Korrektur der nationalistischen exklusiven Parole auf der Fassade des Reichstagsgebäudes bekennen". Natürlich: Der Künstler hat Bert Brecht bemüht, der 1933 in einer historisch anderen Situation mit Bitterkeit erfüllt angesichts der NS-Phrasen vorschlug, "Volk" durch "Bevölkerung" zu ersetzen. Der linke Patriot Brecht hatte noch 1953 anläßlich des Volksaufstandes in der DDR ironisch bemerkt, die SED solle doch das Volk auflösen und sich ein neues wählen. Bisher haben sich gegen die Haacke-Kunst nur der CDU-Abgeordnete Kauder und die CSU-Landesgruppe gewandt.

Die grundsätzliche Frage ist: Wen vertreten die Abgeordneten eines Landes? Dies ist in allen Demokratien in der Verfassung geregelt. Diese Verfassung bestimmt zuallererst, wem sie gegeben ist. Im Grundgesetz, Artikel 20 (Grundlagen staatlicher Ordnung, Widerstandsrecht) heißt es:

"1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."

Warnend heißt es noch in Absatz 4: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

Deutschland ist eine Demokratie. Die Demokratie setzt ein konkretes Volk voraus. In einer Demokratie ist das Volk der Souverän. Deshalb wurde der Reichstag zu Recht "Dem Deutschen Volke" gewidmet. Die Repräsentanten des verfassungsmäßigen Bundes der Deutschen, Bundespräsident, Bundeskanzler, Minister, leisten einen Eid: "Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde."

Die Reichstags-Installation beschädigt die Demokratie. Offenbar ist dies den meisten Abgeordneten noch nicht bewußt. Dieser Vorgang gibt jenen Recht, die 1990 eine Volksabstimmung über das Grundgesetz gefordert hatten. Diese hätte allen Entscheidungsträgern in Erinnerung gerufen, wer in der Demokratie herrscht: das Volk.


 
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