© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Atompolitik: Konsensgespräche am Scheitern / Anti-AKW-Bewegung mobilisiert
"Nur die Ferkel haben gewechselt"
Gerhard Quast

Das selbstgesteckte Ziel lautete: Zwölf Monate. Sollte es nach Ablauf dieser Frist nicht zu einer einvernehmlichen Regelung zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen über den Atomausstieg in Deutschland kommen, werde die Koalition ein Gesetz einbringen, mit dem der entschädigungsfreie Ausstieg geregelt werde, drohten SPD und Bündnisgrüne in ihrer Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998.

Seither sind mehr als ein Jahr ins Land gegangen, einige Verhandlungsrunden ohne greifbares Ergebnis geblieben, der angestrebte Konsens nicht in Sicht: Nach dem jetzigen Stand der Gespräche mit den AKW-Eigentümern würde das letzte Atomkraftwerk in 25 Jahren abgeschaltet. Ziel der Koalition ist jedoch eine Restlaufzeit von "eher 20", wie Wirtschaftsminister Werner Müller bestätigte. Sollte es darüber Einvernehmen mit den Betreibern geben, was eher unwahrscheinlich ist, müßte in dem Ausstiegsgesetz auch eine Formulierung enthalten sein, daß die Betreiber auf juristische Mittel verzichten.

Inzwischen mehren sich allerdings die Stimmen, die ein Scheitern der Konsensgespräche für möglich halten. "Wenn der Konsens nicht klappt, kommt der Ausstieg im Dissens", meinte beispielsweise die energiepolitische Sprecherin der Grünen, Michaele Hustedt. Und selbst Wirtschaftsminister Werner Müller scheint nach den pessimistischen Äußerungen der Stromkonzerne keineswegs mehr vom Gelingen der Verhandlungen überzeugt zu sein. Zwar schätzt der Minister die Chancen auf eine Einigung immer noch auf "erheblich über 50 Prozent", gleichzeitig trifft er erste Vorbereitungen für den Fall, daß diese scheitern sollte. Wie der parteilose Minister am vergangenen Wochenende bestätigte, bereite eine Staatssekretärsrunde bereits einen entsprechenden Gesetzestext vor, mit dem der Atomaustieg auch gegen den Willen der Stromkonzerne durchgesetzt werden kann, ohne Gefahr zu laufen, daß eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht das Gesetz wieder kippen könnte.

Kern dieses Gesetzes soll die nachträgliche Befristung der Betriebserlaubnis von Atomkraftwerken sein. Aber selbst in einem solchen Fall schließt Müller politisch erzwungene Abschaltungen in der laufenden Legislaturperiode grundsätzlich aus. Zwar könne er sich vorstellen, daß es im Zuge von Konzernfusionen bis zum Jahr 2002 zu AKW-Abschaltungen komme, "ein Bauernopfer" werde es jedoch nicht geben.

Berichte der Berliner Zeitung, wonach Bundeskanzler Gerhard Schröder und der grüne Koalitionspartner sich für die 19 in Betrieb befindlichen deutschen Atomreaktoren auf Betriebszeiten von "ungefähr 27 Jahren" geeinigt hätten, wies das Umweltministerium als "frei erfunden" zurück. Eine solche Festlegung würde bedeuten, daß in dieser Legislaturperiode noch drei Atomkraftwerke (Obrigheim, Stade und Biblis A) vom Netz gehen müßten und der letzte Reaktor (Neckarwestheim 2) im Jahr 2016 abgeschaltet würde.

Wie auch immer dieses Schachern und Mauscheln um die Betriebszeiten der deutschen Atomkraftwerke ausgehen mag, ob im Konsens oder Dissens, für die Anti-AKW-Gegner ("Konsens ist Nonsens") steht schon jetzt fest, daß sie den Druck auf die rot-grüne Koalitionsregierung stetig erhöhen müssen, bis auch der letzte Atommeiler seinen Betrieb eingestellt haben wird. Auftakt dazu war eine Demonstration der Bäuerlichen Notgemeinschaft aus dem niedersächsischen Lüchow-Dannenberg am vergangenen Samstag in Berlin, zu der unter anderem der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), die Grüne Liga, der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), der Deutsche Naturschutzring (DNR), der Naturschutzbund (NABU) sowie die Umweltschutzorganisationen Greenpeace und Robin Wood aufgerufen hatten.

In Erinnerung an den legendären Gorleben-Treck in die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover ("Albrecht, wir kommen") vor zwei Jahrzehnten stand der Bauernprotest diesmal unter dem Motto "Gerhard, wir kommen". Und dies nicht von ungefähr, schließlich sind einige der altgedienten Mitglieder der Bäuerlichen Notgemeinschaft mit dem heutigen Bundeskanzler persönlich bekannt; etwa dadurch, daß der damalige Rechtsanwalt "einen von uns", wie Bauer Hermann Bammel unterstreicht, als Mandanten übernommen hatte.

Mit ihren 112 geschmückten und plakatierten Traktoren – und Tausenden Anti-AKW-Gegnern im Schlepptau – wollten sie nicht nur ihre Forderung nach einem sofortigen Atomausstieg unterstreichen; unübersehbar war auch die Enttäuschung über die rot-grüne Koalition: "Unsere mit dem Regierungswechsel verbundenen Hoffnungen und Erwartungen haben sich in Wut und Entschlossenheit gewandelt: Wir werden den Ausstieg aus der Atomenergie weiterhin selbst in die Hand oder auf den Frontlader nehmen müssen", zitiert Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, einen Bauern aus dem Wendland.

Entsprechend boshaft waren auch die Sprüche auf den mitgebrachten Schildern: "Der Trog ist derselbe geblieben, nur die Ferkel haben gewechselt". Oder: "Regierungen kommen und gehen – aber der Widerstand bleibt". Und immer wieder die an die rot-grüne Regierung gerichtete Ankündigung, sich der möglichen Wiederaufnahme von Atommülltransporten entgegenzustellen: "Gorleben ist überall. Tag X – wir stellen uns quer".

Besonders hart gingen die Demonstranten nicht nur mit den Grünen ins Gericht ("Was ist grün und stinkt?"), enttäuscht zeigten sie sich auch über den einstigen Atomkraftgegner Schröder, der früher bei den Bauern viel Ansehen genoß, heute aber als "Spielball der Atomindustrie" gesehen wird. Und dazwischen – in Erinnerung an den Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts –Fahnen des Bundschuhs und die unmißverständliche Warnung "Wer Vertrauen mißbraucht, wird Widerstand ernten!"


 
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