© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


DDR: Ein Foto geht um die Welt – die erste Bresche am Brandenburger Tor
Die Mauerbrecher von Berlin
Lovis Almut Schiller

Es gibt Fotografien, die im nachhinein zum Symbol eines geschichtlichen Umbruchs werden. Am Morgen des 11. November 1989 wurde ein solches historisches Foto geschossen: Es zeigt eine Reihe Jugendlicher, die das erste Stück aus der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor herausgebrochen haben. Die "Aktuelle Kamera" brachte diese Szene ebenso wie die "Tagesschau"; das Foto, Symbol des Aufbruchs nach jahrzehntelanger Teilung, ging um die ganze Welt.

Wer sind diese Leute, wieso befanden sie sich dort, und wie brachten sie diese Tat zustande? Die meisten der "Umstürzler" waren Angehörige zweier jugendbewegter Bünde, der Heimattreuen Jugend und des Freibunds. Zehn Jahre danach erinnert sich Jörgen-Arne F. aus dem westdeutschen H., damals 19 Jahre alt: "Am 10. November hielt unsere Jugendgruppe gerade ihren Heimabend ab, da rief plötzlich meine Schwester an: ‘Die Mauer ist offen!’ Ich schickte die Jüngeren nach Hause und fragte die Älteren, ob sie mit nach Berlin wollten." Wenige Minuten später sitzen die fünf in einem geborgten Auto: Hans J., 16, Wolfgang B., 17, Jörgen-Arne sowie seine Schwester und sein Bruder.

Zu diesem Zeitpunkt ist ein anderer Freundeskreis aus Norddeutschland bereits unterwegs, darunter Henning P., Michael W., Frank S. und Robert K.. Was war ihre Motivation? Der damalige Student Henning: "Viele von uns kamen aus dem gleichen Jugendbund, und es war immer ein Ziel von uns, immer unser fester Glaube, daß der Status Quo nicht aufrecht erhalten bleibt, sondern es eines Tages zur Einigung kommen würde."

Ziel beider Gruppen ist das Brandenburger Tor. "Ich stand oben auf dem Betonwall, in Wanderstiefeln, wollener Kniebundhose und Juja (Jungenschaftsjacke, Anm. LAS)", erzählt Jörgen-Arne, "als mich plötzlich jemand ansprach – blond gefärbte, verfilzte Haare, Anti-Nazi-Aufnäher auf der Jacke: ‘Ey – was bist’n du für einer?’ Ich habe ihm gesagt, daß ich aus einem heimattreuen Jugendbund bin. Gespannt wartete ich auf seine Reaktion: Da schlang er seinen Arm um mich und meinte: ‘Ey, ist das nicht geil, über was man sich hier auf der Mauer unterhalten kann?’ In dem Moment saß mir wirklich ein Kloß im Hals." Verbunden ist, "was die Mode streng geteilt", die Menschen sind in dieser Situation auf sich gestellt, plötzlich gibt es keine Schranken mehr, kein Rechts-Links, kein Ost-West.

Ein Vorschlaghammer soll die Mauer sprengen

Dumpfe Schläge dringen vom rechten Ende der Panzermauer herauf, begleitet von rhythmischen Rufen. Jörgen-Arne und seine Begleiter treffen dort auf die anderen Bündischen: Henning und seine Freunde sind seit Mitternacht dabei, ein Mauersegment mit dem Vorschlaghammer zu bearbeiten. Die jungen Leute kennen einander von früher. Irgendwann hatten sich ihre Wege getrennt. Daß sie der Zufall hier wieder zusammenführt, verwundert sie kaum. Henning: "Wir staunten nicht, sondern für uns war das so ein Gefühl: ‘Ganz klar, daß ihr auch hier seid’."

Für den Bau der Mauer hatte man hochqualitativen westdeutschen Stahlbeton verwendet, zudem die Segmente in Betonwinkeln im Boden verankert, was jedes Ausgraben unmöglich macht. Eine andere Gruppe hatte schon früher am Abend begonnen, die lediglich zementierten seitlichen Nahtstellen des Mauerelements freizuschlagen, dann aber aufgegeben. Den Neuankömmlingen gelingt es, die Spalten rechts und links zwei Meter tief zu verlängern. Am schwersten aber ist es, die Mauer unten waagerecht zu durchschlagen. Keine zehn Leute bilden den harten Kern derer, die beständig den schweren Vorschlaghammer aneinander weiterreichen. Zwei von ihnen sind nicht bündisch und aus der DDR. Eine Menschenmenge hat sich um sie gebildet, feuert sie an: "Die Mauer muß weg!" Auch der mit 500 Mann anwesenden Grenzbrigade Mitte ist das Treiben nicht unbemerkt geblieben; sie schießt mit einem Wasserwerfer oben über die Mauer und insbesondere durch die bereits freigelegten Ritzen.

Es kommt zur Räumungsaktion. Die Grenztruppe stürmt den Wall vor dem Brandenburger Tor, stößt die Menschen teilweise drei Meter tief rückwärts hinunter. Dann reiht sie sich auf, um die Abrißaktion an der Mauer von der Seite aus zu beobachten. Inzwischen erklimmt Henning eine am Wall angelehnte Leiter, schwingt eine zweieinhalb Meter lange Deutschlandfahne; Jörgen-Arnes Schwester hatte sie vor der Abfahrt gekauft. Der 22jährige fühlt sich wie ein Führer der Massen – die Menschen rufen, was er ihnen vorgibt: "Es war ein Riesenorkan von Stimmen, die dann jederzeit brüllten: ‘Einheit jetzt!’, ‘Wir sind das Volk!’ und vor allen Dingen immer wieder einfach nur ‘Deutschland, Deutschland, Deutschland!’"

Jörgen-Arne betont die Friedfertigkeit, mit der alles verlief: "Natürlich kam immer wieder Aggression hoch, aber die Leute nahmen ihr einfach den Raum durch ihre Freude, ihren Spaß, ihren Gesang. Wenn jemand randalierte, rief alles sofort: ‘Keine Gewalt, keine Gewalt!’" Michael erzählt: ,,Ich glaube, für viele war das Ganze nur ein Happening, sie feierten eher das Ende eines Unterdrückungsstaates als die Einheit der Deutschen. Aber nie zuvor habe ich eine solche Solidarität zwischen Leuten, die sich vorher nicht kannten, erlebt wie in dieser Nacht."

Inzwischen haben die Soldaten einen Feuerwehrschlauch auf den Wall verlegt. Aus wenigen Metern Entfernung trifft der Wasserstrahl mit hohem Druck die jeweils Vordersten an der Mauer. Spätestens jetzt sind die jungen Leute naß bis auf die Haut – bei mehreren Minusgraden. Sie arbeiten trotzdem weiter. Schmerz und Kälte spüren die nächtlichen Arbeiter an der Mauer nicht; sie hätten sich in einem Rauschzustand, einer Ekstase befunden, erklären sie.

Gegen neun Uhr morgens haben sie endlich das Stahlskelett im Innern freigelegt. Durch den unteren Teil des Mauerelements führt nun ein breiter Querspalt. Er verbindet die bereits geschaffenen senkrechten Ritzen rechts und links. Der obere Teil des Segments steht damit nur noch auf wenigen Stahlträgern. Sie sollen jetzt, wie ein Drahtstück, durch Hin- und Herbiegen des Mauerblocks abgebrochen werden. Eine Kette wird oben herumgelegt und durch ein Drahtseil verlängert. Mit vereinter Kraft zieht man zuerst an dem Seil, dann drückt ein ganzer Pulk das Mauerstück wieder nach Osten.

Spontane Verbrüderung im ehemaligen Todesstreifen

Plötzlich sprühen Funken auf: Die Grenzsoldaten trennen die Kette durch. Erneut versucht es die Menge mit Schieben, die andere Seite hält dagegen. Zehn- zwölfmal schwankt der Block vor und zurück. "Ein Wunder, daß bei dieser Aktion niemand gestorben ist", bemerkt Wolfgang. "Ich stand halb unter dem Mauerstück, dachte nur noch: ‘Wenn jetzt die Stahlträger brechen, bin ich platt!’" Schließlich kippt das Teil um – nach Westen. "Es war wie eine Befreiung", sagt Michael. Nur durch die Mitarbeit der DDR-Grenzer ist der Einriß gelungen. Ungeheurer Jubel bricht aus.

"Nun sahen wir die Gegenseite zum ersten Mal", erzählt Wolfgang, "da standen die Grenzsoldaten, die behandschuhten Hände noch vom Gegendrücken erhoben, und johlten." Der Fall der Mauer wird von beiden Seiten zunächst wahrgenommen wie das Ende eines sportlichen Wettkampfes.

Frank, 27, und Michael, 30, die direkt an der Maueröffnung stehen, tauschen mit den beiden jungen Soldaten erste freundliche Worte aus. "Wären wir ein bißchen tollkühner gewesen, hätten wir sie in den Arm genommen", bedauert Michael ihr Zögern. Im Nu steht Henning auf der umgeknickten Mauerblock, Jörgen-Arnes Schwester reicht die Fahne zu ihm durch, einmal schwenkt er sie – da bekommen die Grenzsoldaten sie zu fassen und reißen sie hinüber. Als die Fahne auf der Ostseite verschwindet, setzen Euphorie und Sprechchöre schlagartig aus. Doch niemand begeht eine Kurzschlußhandlung. "Abgesehen von der Wasserwerferaktion haben die DDR-Grenzsoldaten, vor allem später, beim Mauerdurchbruch, ein sympathisches Verhalten an den Tag gelegt", stellt Henning fest.

Die vereinzelten Westpolizisten in der Menge sind inzwischen verstärkt worden. Ihre Mahnung: "Dies ist Beschädigung fremden Staatseigentums!" ruft aber nur Gelächter hervor. Jörgen-Arne im Rückblick: "Sie machten einen verkrampften, überanstrengten Eindruck, als würde sie der ganze Umstand einfach nur nerven." Eine andere Augenzeugin berichtet von britischen und amerikanischen Soldaten, die aufgeregt mit den deutschen Polizisten diskutierten. Polizeimannschaftswagen fahren plötzlich auf. Ein Gedränge entsteht, die jungen Leute versuchen noch einmal, das Mauerstück weiter hinunterzuziehen. Jörgen-Arne hängt sich daran, der 18jährige Robert gelangt als zweiter hinauf, Frank und Michael ziehen, alle im Glauben, es durch ihr Gewicht niederdrücken zu können. Umsonst – es bewegt sich keinen Millimeter mehr. Eine Hundertschaft dringt mit Schlagstöcken, Schilden und weißen Schutzhelmen in die Ecke vor dem Wall. "Kommen Sie herunter!" fordert der Einsatzleiter Henning auf. In dieser Sekunde schießt Günther Peters das Foto.

Auch Fotos, die den Lauf der Geschichte zu dokumentieren scheinen, bleiben Momentaufnahmen. Was geschah nach diesem Moment, am Morgen des 11. November 1989, nach dem Sturz des ersten Mauerelements durch die Bevölkerung?

Ein Grenzsoldat nahm die Fahne mit nach Hause

Hans und Wolfgang (auf dem Foto in Rückenansicht links neben dem Einsatzleiter) hören den per Funk übermittelten Befehl: "Jeder, der noch weitere Straftaten an der Mauer begeht, ist sofort in Gewahrsam zu nehmen!" Henning bekommt die Mütze des Einsatzleiters zu fassen, schwenkt sie unter dem Johlen der Menge ein paar Mal hin und her und setzt sie dem verdutzten Beamten dann wieder auf. Keine Minute später wird er gewaltsam heruntergerissen, verschwindet am Boden im Handgemenge. "Dann wurde richtig zugeschlagen", erzählt er heute. Buhrufe ertönen und ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert, aber die Polizisten treiben die Menge auseinander.

Die West-Berliner Polizei schützt die Mauer. "Am niederschmetterndsten war es zu sehen, daß die Bresche nicht offen bleibt", empfindet Henning. Die gestürzte Mauerplatte wird von der Grenztruppe wieder aufgerichtet, die Fläche im Westen weiträumig abgesperrt. "Natürlich war es kein Staatsziel, daß die Polizei das Mauerstück unten läßt, damit es vielleicht von der Weltpresse noch einmal fotografiert werden kann."

Und was ist aus der Fahne geworden, die durch die Mauer hindurchwanderte? Bei einer Veranstaltung im Ostharz treffen Freunde 1994 einen ehemaligen Grenzsoldaten, der 1989 auf der anderen Seite des Mauerstücks gestanden hatte. Die Fahne sei damals zunächst weggeworfen worden, erklärt er, noch nach Stunden habe sie im Staub gelegen. Später habe er sie mitgenommen: "Die hängt jetzt bei mir zu Hause, als Andenken."

Kontakt: Der Freibund e.V. Postfach 1505, 37005 Göttingen


 
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