© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/99 19. November 1999


Philosophie: Ein kulturkritischer Essay von Peter Sloterdijk
Verachtung der Massen
Holger von Dobeneck

Als vor kurzem Jürgen Habermas das Feuilleton zur aktiven Diskursintoleranz anstiftete, antwortete sein williger Vollstrecker Thomas Assheuer gemäß Sloterdijks treffender Bemerkung wie einst die Gänse in Rom bei Gefahr für die Republik postwendend von seinem capitolinischen Zeithügel mit dem Geschnatter: "Die Gallier kommen." Doch es gab weit und breit keine Gallier, sondern nur Peter Sloterdijk, und der kam schon vor 17 Jahren mit seiner "Kritik der zynischen Vernunft". Die war ein 1.000seitiges Nietzsche-Projekt, wie überhaupt Sloterdijks Intention, die Kulturkämpfe seiner Zeit zu beschreiben, als Wille zur Interpretation – und das ist Wille zur Macht im Sinne Nietzsches – gesehen werden kann.

Folgt man Sloterdijk, so ist die Geschichte durch die Jahrhunderte ein steter Kampf zwischen den Formationen von oben und unten und er wird geführt, abgesehen von gelegentlichen Massakern und Kriegen, hauptsächlich durch literarische Produktion und Rhetorik.

Sloterdijks jüngster Radioessay über Kulturkämpfe in der Demokratie enthält eine Kritik der Massenkultur, nicht ohne den historischen Kontext allerdings. Die Massenkultur ist ein Produkt der Demokratie, diese grenzt sich polemisch ab von den vorliegenden Jahrhunderten und zieht jede vergangene Denkfigur in den cynischen Staub. Alles, was aus der Masse herausragt, muß auf ein egalitäres Gleichmaß herabgestuft werden. In polemischer Verkürzung wird so der Heilige zum Spitzensportler, der einstige Weise zum zeitgeistlichen Intellektuellen.

Den anderen Schlag läßt Sloterdijk die moderne Kritikkultur führen, die den Weisen durch den Intellektuellen ersetzte, beginnend mit den philosophes des 18. Jahrhunderts und endend mit den Skeptikern, Interpretationsphilosophen, Konventionalisten und Konstruktivisten der Gegenwart, die allesamt das Konzept des souveränen, evidenten Wissens zu Fall bringen und anstelle von Wahrheit nur Hypothesen und Vermutungen gelten lassen. Ganz offen spricht der Amerikaner Richard Rorty die Wende aus, indem er den Vorrang der Demokratie vor der Philosophie behauptet. Jeder, der sich dieser Epistemologie verweigert, bekommt unweigerlich das Etikett eines Fundamentalisten verpaßt und wird aus dem Reich der Postmoderne verwiesen. Die erkenntnistheoretischen Fundamentalisten jedenfalls sind nach Sloterdijk unsichere Kantonisten in Sachen Demokratie, glauben sie doch an ein Wissen, das nicht zur Disposition steht, und wenn die "Welt voller Konventionalisten wäre".

Als letzte nicht reduzierbare Differenz bleibt allerdings der Unterschied zwischen Begabten und Unbegabten, den auch die fortschrittlichste Anthropologie nicht leugnen kann. Nachdem also der Geistesadel abgeschafft war, berief man sich auf den natürlichen Adel von Begabung und Genie, doch wie Sloterdijk süffisant vermerkt, erwies sich die Natur als genauso launenhaft wie der Fürst und schuf stets aufs Neue Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten.

Deshalb befanden die progressiven Erkenntnistheoretiker, man solle am besten den Begriff des Wesens ganz abschaffen, der Anti-Essenzialismus ist daher das tragende Element der Massenkultur. Alle gefundenen Unterschiede zwischen den Menschen sollen in gemachte umgedeutet werden. Zwischen "Finden" und "Machen" laufen daher die ideologischen Grabenkämpfe der Gegenwart. Zwischen beiden Erkenntnishaltungen laufen die heftig umkämpften Grenzen zwischen Progressivität und Konservativismus, zwischen konstruktivistischem Andersmachen und ontologischem Vernehmen und dies ist letztlich auch die Grenze zwischen low und high culture.

Was auch immer in der Natur gefunden wird, wird vom mainstream als konstruiert entlarvt. Jede Unterscheidung fällt auf den Unterscheider zurück, es gibt daher keine Tatsachen mehr, sondern nur noch Interpretationen, wie Nietzsche lehrte. Sloterdijk weist die Konsequenzen auf. Demgemäß gibt es keine Herren mehr, sondern nur noch Unterwerfungsprozesse, kein Genie, sondern nur noch Produktionsprozesse, keine Autoren, sondern nur noch programmierte Programmierer.

Einzig die Kunst war bislang ein Refugium der zu beachtenden Differenz, den Begriff der Qualität ließ sie sich nicht nehmen. Doch gerade auch hier beginnt die Masse mit ihren Meinungssoldaten im Feuilleton Sperrfeuer zu legen. Talent und Genie werden anstößig, befindet Sloterdijk, und er verweist auf Beuys, der als Genie begann und als Sozialdemokrat endete. Auch AndyWarhol hat schnell vom unbestreitbaren Talent zum Gewinnmaximierer umgestellt.

Wenn wir schwören, daß alles, was wir tun, keinen Unterschied macht, dürfen wir tun, was wir wollen, dann machen alle Unterschiede, die wir machen, in Wirklichkeit keinen Unterschied: "Masse verpflichtet". Marcel Duchamps, der unbestreitbare Symptomkünstler des Jahrhunderts, hat das schon früh erkannt und befunden, Talent störe nur den Kunstbetrieb.

Doch das Streben nach Anerkennung verlangt nach Differenzierung und Auszeichnung. Dem steht das Ressentiment der Masse entgegen, die sich schlecht fühlt, wenn sie auf der Verliererseite steht. In der Tradition gab es früher vor dem säkularen Zeitalter noch die Tröstungen der Religion. Gott ließ eben Unterschiede zu. Die Rolle Gottes übernimmt heute der Kunstmarkt, der in seinen irrationalen Momenten die einen erhöht und die anderen in die "Nacht der Unverkäuflichkeit stößt".

Sport, Spekulationen und vor allem eben der Kunstmarkt müssen als psychopolitische Regulatorien in die Bresche springen, um die Gesellschaft vor ihren endogenen Spannungen, die die Verlierertypen in die Depression zu stürzen drohen, zu bewahren.

In den Stadien, den Galerien und auf der Börse plazieren sich die Konkurrenten, um Anerkennung zu finden. Weil dies aus eigenem Willen geschieht, wirkt es versöhnend und haßreduzierend. Der in der Masse vorhandene Haß auf alle Qualität wird immer wieder angeheizt vom Journalismus, der, wie Sloterdijk nicht ohne eigene Betroffenheit meint, im Sinne Canettis zur Hetzmeute wird, die als Hetzmitte auftritt. Sie hat sich die Liquidierung des Genies zum Ziel gesetzt, ihre Parole lautet wie bei Rorty: Vorrang der Demokratie vor der Kunst. Sloterdijk appelliert daher an die Garanten des Feldes, die Teilnehmer des Kunstspieles, die das diskrete Wissen um Niveau besitzen müssen, ihre Aufgabe auch wahrzunehmen und es nicht den Leporelli des Kunstmarktes, den Kunstmanagern und Moderatoren zu überlassen.

Objektbezogene Bewunderung ist die freiwillige Aufnahme eines Leidens gegenüber Werken, die wir selbst nicht hervorzubringen vermögen. Die totalitäre Masse lobt nur das, was sie selbst ist, bequem und zum Mitnehmen. Sie zerschlägt alle Spiegel, die ihr nicht schmeicheln. Deshalb schließ Sloterdijk mit dem Appell: "Kultur ist eine vornehme Differenz, die es nur solange gibt, wie sie gemacht wird, sie ist wie alles Vorzügliche selten und schwierig."


 
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