© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Erziehung: Reformpädagogen trifft eine Mitverantwortung für die Gewaltexzesse von Jugendlichen
Mit Härte die Energie in Bahnen lenken
Karlheinz Weissmann

Es gehört zur eher unbekannten Geschichte der Reformpädagogik, daß der Erfinder der antiautoritären Erziehung, Alexander S. Neill, schon 1923 in Österreich eine Schule gegründet hat. An zehn Halbwüchsigen wurde nahe dem Ort Amstetten erprobt, was später in größerem Maßstab verwirklicht werden sollte. Dabei zeitigte Neills pädagogischer Grundgedanke, jedes Kind nach seinen persönlichen Neigungen handeln zu lassen, von Anfang an problematische Folgen.

In einem Fall, dem des vierzehnjährigen Angus MacAngus, führte die große Freiheit umgehend zu hemmungsloser Zerstörungslust. Der Sohn eines schottischen Clanhäuptlings demolierte nicht nur das Eigentum seiner Kameraden, er warf auch die Fenster der Dorfkirche ein, legte Feuer, zuerst in der Schule, dann in einem alten Klostergebäude und schließlich in der Ortschaft. Niemand durfte ihn deshalb zur Rechenschaft ziehen oder gar bestrafen, stereotyp bekam man auf jede Beschwerde zu hören: "He has to get it out of his system", er müsse das auf diese Weise loswerden.

Als Angus allerdings einen Hund aus dem vierten Stockwerk stürzte, Tiere und Kinder wahllos mit Steinen bewarf, war die Bevölkerung von Amstetten nicht mehr zu beruhigen. Neill mußte zuerst den Jungen fortschicken und endlich die Schule schließen.

Bezeichnenderweise hat diese Erfahrung Neill keines Besseren belehrt, und ähnliche Formen von Erfahrungsverweigerung sind in der modernen Pädagogik nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das ist darauf zurückzuführen, daß die Erziehungslehre seit der Zwischenkriegszeit immer stärker von anthropologischen Grundeinsichten getrennt wurde. Ein Prozeß, der mit dem Zugewinn an Selbstgewißheit in der Pädagogik verknüpft war, die sich in diesen Jahren als akademisches Fach etablieren konnte und der Vorstellung zuneigen mußte, daß der Mensch prinzipiell veränderbar und das heißt verbesserbar sei. Aber die Radikalität, mit der je länger je stärker das Vorhandensein aller festen Gegebenheiten des menschlichen Wesens geleugnet wurde, ist so nicht hinreichend zu erklären. Dabei spielte auch die Indienstnahme der Pädagogik durch rousseauistische Ideale eine Rolle.

Fatale Folgen der Illusion einer ganzen Generation

Die Auffassung, daß der Mensch von Natur gut sei und daß ihn die Kultur böse gemacht habe, weshalb erst eine Demontage der Kultur stattfinden müsse, eröffnete für die Pädagogik grundsätzlich zwei verschiedene Handlungsmöglichkeiten: die erste setzte Geduld voraus, denn die humane Schule war ihr zufolge nur in der humanen Gesellschaft einer fernen Zukunft erreichbar (links-orthodox), die zweite dagegen war aktivistisch, denn ihre Anhänger meinten, man könne den Prototyp des Neuen Menschen schon in der Schule heranzüchten, und dieser werde dann als Agent der Utopie die Gesellschaft im gewünschten Sinne revolutionieren (links-häretisch).

Für die Bundesrepublik erwies sich als bedeutsam, daß die Achtundsechziger vor allem die zweite Handlungsmöglichkeit faszinierte. Neills Mischung von Kindorientierung, Psychoanalyse und sozialistischen Vorstellungen war genau aus diesem Grund so erfolgreich, sein Summerhill erschien geradezu als neues Jerusalem der modernen Pädagogik.

Es war für Neill ein Erfolg, der sich mit Verspätung einstellte, aber immerhin ein Erfolg. In den Augen der Achtundsechziger verband sich jedenfalls die antiautoritäre Erziehung problemlos mit dem Antikapitalismus, mit den Vorstellungen von der fatalen Rolle der Kleinfamilie bei der Herstellung des autoritären Charakters, mit dem Wunsch, den eindimensionalen Menschen vom Konsumterror zu befreien. Der Einfluß der Frankfurter Schule an den pädagogischen Seminaren (Wolfgang Klafki e tutti quanti) tat ein übriges. Auch daß am Ende der sechziger Jahre eine neue Lehrergeneration ihren Dienst antrat, trug dazu bei, daß die Achtundsechziger im Erziehungswesen viel früher als in anderen Bereichen Einfluß erlangten.

Die Wirksamkeit ihrer Idee vom Zusammenhang zwischen Gesellschaftsveränderung und Schulveränderung erklärt sich allerdings zu einem wesentlichen Teil nur dadurch, daß sie sich in bestimmten Punkten mit den Zielen einer lange vorbereiteten staatlichen Reform traf, die auf Bildungsexpansion setzte. Der Versuch des Bundes, der Kultusministerien und aller möglichen Räte, die Anzahl der Gymnasiasten und der Hochschulabsolventen zu erhöhen, war in erster Linie technokratisch motiviert. Schon seit dem Ende der fünfziger Jahre gehörte es zu den politischen Allgemeinplätzen, daß der moderne Industriestaat immer mehr gut ausgebildete Arbeitnehmer brauche, da der Bedarf an nichtqualifizierten Tätigkeiten weiter sinken werde. Die Beseitigung von Bildungsschranken wurde auch von dieser Seite als Beseitigung von sozialen Schranken gedacht, die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) sollte eine Stabilität verbürgen, die die alte Klassengesellschaft niemals besessen hatte.

Es hat gegen den Marsch durch die Bildungsinstitutionen zwar von Anfang an Widerstand gegeben, aber der blieb wirkungslos. Symptomatisch war das Schicksal des Kongresses Mut zur Erziehung von 1978, der in der Öffentlichkeit zwar sehr aufmerksam und von der linken Intelligenz mit großer Besorgnis registriert wurde, aber keine praktischen Konsequenzen hatte. Die von einigen erschrockenen Liberalen und einigen unbeugsamen Konservativen gebotene Alternative zur neuen Pädagogik – Leistung, Autorität, Wissen – blieb ohne Anziehungskraft. Die damals ins Feld geführten Bedenken gegen die Systemveränderung im allgemeinen und die Bildungsreform im besonderen hatten indes prophetische Qualität: die Ausrichtung des Erziehungswesens an Emanzipation und Selbstbestimmung, die Leugnung jeder Erfahrung, die Denunziation der Familie und aller Bindungen überhaupt mußte fatale Folgen haben. Diese Folgen sind längst offenbar. Schon vor fünf Jahren konnte der Pädagoge Jürgen Oelkers zu der Feststellung kommen: "Bisher ist das Programm von 1968 nicht widerrufen worden. Aber heute wird sichtbar, was es war: die Illusion einer Generation, die sich um die Folgen nicht scherte. Es war Luxus. Ein entscheidender Mangel der Emanzipationspädagogik lag darin, daß sie keine Auskunft über ihre eigenen Risiken gegeben hat."

Diese Sätze wurden in einem fast schon wieder vergessenen Zusammenhang formuliert: Die ausländerfeindlichen Exzesse von 1992 hatten innerhalb der Linken selbst eine Diskussion darüber ausgelöst, ob eine Verbindung zwischen den von ihr propagierten Erziehungsmethoden und den Ausschreitungen bestehen könne.

Anpassungsdruck nach dem Wegfall alter Normen

Der Politologe Claus Leggewie, ein Angehöriger der Achtundsechziger-Generation, schrieb über die Begegnung mit einem der Gewalttäter: "Er ist knapp zwanzig, kein waschechter ’Fascho‘ und blindwütiger Schläger. Eigentlich ein ganz normaler Junge, wenn er nicht vor ein paar Monaten versucht hätte, ein Asylbewerberheim anzuzünden, aus Haß & Langeweile. Was mir an ihm besonders aufstieß, war weder seine Gewalttätigkeit noch seine Dummheit, es war die Rohheit seiner ganzen Person – ein ausgesprochen ungezogener, ein unerzogener Bengel. Ich hätte sein Vater sein können."

Leggewie zählte im folgenden alle Ursachen für die Verwahrlosung auf: die Unsicherheit der Väter und das notorisch schlechte Gewissen der (berufstätigen) Mütter, der Versuch, den Mangel an Zuwendung und Zeit durch Konsummöglichkeiten auszugleichen, die Kaschierung der Indifferenz als Toleranz, die Unfähigkeit, Grenzen zu setzen und die auf Dauer gestellte eigene Jugendlichkeit, die der nachwachsenden Generation jede Möglichkeit nehme, ihre Identität in einer fruchtbaren Auseinandersetzung zu bestimmen: "Wir haben nur abgeräumt, zu wenig an die Stelle gesetzt."

Das An-die-Stelle-setzen hat sich tatsächlich zum zentralen Problem entwickelt, und die ganze Hilflosigkeit der Debatte, die seit Jahren über die Erziehung, über Werte, über die Jugend, über den Zustand des Bildungssystems geführt wird, spiegelt das und nur das wider. Während die einen schon laut über Waffenkontrollen und Schuluniformen nachdenken, eine neue "Kultur der Anstrengung" propagieren und für jugendliche Straftäter Haft, aber zumindest die Wiedereinführung der in den siebziger Jahren abgeschafften geschlossenen Heime verlangen, beseitigen die anderen die letzten Reste des elterlichen Züchtigungsrechts, setzen emanzipatorische Lernziele in Unterrichtsvorschriften um und führen unbeeindruckt von allen Rückschlägen den Versuch fort, kriminelle Jugendliche mit Hilfe der Erlebnispädagogik zu bessern. Es herrscht eine völlige Verwirrung und Überschneidung der Tendenzen, von denen die eine auf Vollendung des 1968 Begonnenen, die andere dagegen auf Korrektur oder Abbruch und Umkehrung dieser Entwicklung aus ist.

Selbst wenn es möglich wäre, die ganz Debatte abzuschneiden und eine Entscheidung im Hinblick auf die Erziehung herbeizuführen, bliebe immer noch die Frage, wie eine solche Entscheidung inhaltlich gefüllt werden könnte. Ein Zurück ist nicht zu erwarten und auch nicht wünschenswert. Das Erziehungswesen, wie es in den sechziger Jahren bestand, hatte ohne Zweifel erhebliche Mängel, aber von den alten Institutionen Familie, Schule, Kirche, Jugendbund, Armee ist trotzdem entscheidendes zu lernen, wenn es um die Zivilisierung des Menschen geht. Sie haben keinen Zustand allgemeiner Friedfertigkeit geschaffen, sie haben diesen Zustand nicht einmal angestrebt. Sie bedienten sich vielmehr selbst der Gewalt, aber kalkuliert, und sie kannten Möglichkeiten, diese Gewalt zu bändigen. Sie hatten ritualisierte Formen entwickelt, die oft mit großer Härte für den Einzelnen verbunden waren, aber doch die Abfuhr oder Umorientierung der Aggression ermöglichten.

Das Funktionieren dieses Zusammenhangs ist auch dem Erziehungswesen der DDR grundsätzlich zuzubilligen. Und wenn sich heute in den neuen Bundesländern bestimmte Formen jugendlicher Gewalt besonders ausbreiten, wie unlängst der Mord an einer Lehrerin in Meißen auf erschreckende Weise deutlich gemacht hat, dann hängt das einerseits mit dem Wegfall oder der Diskreditierung bestimmter – nicht nur staatlicher – Institutionen zusammen und kann andererseits mit der Verunsicherung durch die Übernahme eines fremden Gesellschaftsmodells erklärt werden, das mit den eigenen Erfahrungen kaum kompatibel ist. Mehr noch, die beschleunigte äußere Anpassung der Jungen an westdeutsche Verhaltensnormen, die langsamere oder ausbleibende der Älteren muß eine Zuspitzung jener Konflikte fördern, die es grundsätzlich auch in den alten Bundesländern gibt. Gerade in der arbeiterlichen Gesellschaft (Wolfgang Engler) spielte die äußere Disziplinierung des einzelnen eine große Rolle, blieb man auch jenseits ideologischer Vorgaben unmodern, was Fragen des Benehmens oder der Kleidung anbetraf. Wer je Gelegenheit hatte, mit Lehrern zu sprechen, die schon vor 1989 im Dienst waren, kennt deren aus Frustration und Angst vor der neuen Unordnung gemischte Stimmung.

Die Eskalation jugendlicher Gewalt ist hier also nicht die Folge eines anderen autoritären Charakters, eher wird unter verschärften Bedingungen aufgeholt, was bisher noch vom Westen trennt. Was sich abspielt, ist bei genauerer Betrachtung nicht so verschieden von der Entwicklung in den alten Bundesländern – Angriffe auf Behinderte und die notorische Gewalttätigkeit der Antifa, Bildung von ethnischen Jugendbanden, die Fremdvölkische attackieren, Schlachten der Fußballfans und Amokläufe Einzelner nach amerikanischem Muster – und bestätigt in erster Linie jene anthropologische Schule, die den Menschen für ein Lebewesen hält, das sich in keiner Umwelt von allein zurechtfindet, das über eine nicht festgelegte "Antriebsenergie" (Arnold Gehlen) verfügt, die ohne Leitung in jede Richtung ausbrechen kann und dabei den Weg der Zerstörung bevorzugt.

Begründung der Autorität als elementare Funktion

Diese Antriebsenergie ist nicht zu beseitigen, mehr noch, ihre Beseitigung wäre fatal, weil das den Menschen auch wichtiger schöpferischer Impulse berauben würde. Aber sie kann gehegt werden, wenn man ihre Existenz anerkennt und mit der notwendigen Härte in Bahnen lenkt.

Die Frage ist, wer heute diese notwendige Härte aufzubringen vermag, wer also bereit ist, Autorität neu zu begründen und jene Abdankung der Zeitgenossen aufzugeben, von der Hannah Arendt gesprochen hat, die festhielt, daß die Ausübung von Autorität eine der allerelementarsten Funktionen in jedem Gemeinwesen sei, das Hinleiten derer, die durch Geburt neu in die Welt gekommen und daher in ihr notwendigerweise Fremdlinge sind, zu übernehmen und so die Kontinuität dieser gemeinsamen Welt zu sichern.

 

Dr. Karlheinz Weissmann ist Historiker und Studienrat. Er unterrichtet als Lehrer an einem Gymnasium.


Berichtigung

Durch einen technischen Übertragungsfehler sind in dem Beitrag "Mit Härte die Energie in Bahnen lenken" von Karlheinz Weißmann (JF 48/99) einige Anführungszeichen abhandengekommen. Der Autor legt zu Recht wert auf die Feststellung, daß Englers "arbeiterliche Gesellschaft", der Begriff "Fremdvölkische" und das Schlußzitat von Hannah Arendt in seinem Manuskript selbstverständlich kenntlich gemacht waren. (JF)


 
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