© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Gewalt und Medien: Anmerkungen zur Wirkmacht bunter Bilder
Gesten der Hilflosigkeit
Silke Lührmann

Noch nie stand das Individuum so hoch im Kurs wie in den atomisierten westlichen Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nie zuvor war soviel von "Menschenwürde" und "Menschenrechten" die Rede wie heute. Nie zuvor wurde – staatlicherseits, aber auch von den Menschen selbst – soviel in die geistige, seelische und körperliche Funktionstüchtigkeit jedes Einzelnen investiert. Gruppen sind nur mehr ein Mittel zum Zweck: man schließt sich ihnen an zur Selbstfindung, Selbsthilfe oder um die eigene Kreativität auszudrücken, nicht aber um sich als Teil eines Ganzen zu fühlen. Ein solches Bestreben würde mißtrauisch beäugt – und das zu Recht, ist doch mit dem Begriff und Erlebnis des Kollektiven schon genug Mißbrauch getrieben worden in diesem Jahrhundert.

Noch nie wurde ein einzelnes Menschenleben so gering geschätzt wie in der Massengesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Nie zuvor gab es Waffen, die die ganze Menschheit auf einen Schlag vernichten konnten – und das gleich mehrfach. (Daß diese Feststellung ein betroffenheitsjournalistisches Klischee ist, das längst keinen Hund mehr hinter dem Ofen vorlockt, ist an sich schon bezeichnend.) Im öffentlichen Bewußtsein der angelsächsischen Welt ist Auschwitz innerhalb einer Generation von der Apokalypse der abendländischen Zivilisation zum gruselig-coolen Filmschauplatz und Urlaubsziel verkommen.

Wenn man nur die Tagesschau sieht, steigt die Zahl der Toten innerhalb einer ganz normalen Woche ins Unüberschaubare: 473 hier bei Flugzeugabstürzen, 330 dort beim Massenselbstmord einer Sekte, 7.000 bei einem Zyklon, 250 bei Bus- und Zugunfällen, 105 bei einer Gasexplosion, 32 bei einem Lawinenunglück, 71 bei einem Bombenanschlag, 600 bei einem Erdbeben.

Die sieben Opfer eines Amokschützen scheinen daneben kaum der Erwähnung wert; und daß man sich monatelang mit dem Tod einer Märchenprinzessin (und gar jahrzehntelang mit dem eines amerikanischen Präsidenten) intensiv beschäftigen kann, ist geradezu herzergreifend.

Wer danach den Fernseher fürs Abendprogramm eingeschaltet läßt oder ins Kino geht, kann explodierende Körper und zerfetzte Leichen bis zum Abwinken genießen und sich fragen, wie er sich überhaupt noch für das Schicksal des Filmhelden interessieren kann, wenn um ihn herum seine Gegner und Mitstreiter schneller sterben als die Fliegen. (Die Antwort auf diese Frage ist in der Regel simpel und aufschlußreich: Weil der Held von einem Star gespielt wird – einem Individuum also, das es mit Glück, guter Pressearbeit und großer Hartnäckigkeit geschafft hat, sich aus der gesichtslosen Masse herauszukämpfen –, während die frühzeitig Verstorbenen entbehrliche Statisten waren.)

Und wer lieber aktiv als passiv konsumiert, der hat die Qual der Wahl zwischen Video- und Computerspielen, in denen es darauf ankommt, das eigene Überleben zu gewährleisten, indem man möglichst schnell möglichst viele menschliche Figuren auf möglichst spektakuläre Weise niedermetzelt.

Dies allein ist schon verwirrend. Nun ist filmische oder spielerische Inszenierung natürlich nicht dasselbe wie Realität. Wenn auf einer Leinwand Gummiarme durch die Luft fliegen oder rote Flüssigkeit spritzt wie Champagner, wenn jemand Spaß daran findet, computeranimierte Strichmännchen abzuknallen, wird die Menschenwürde nicht wirklich angetastet. Jeder gebildete Mensch weiß, wie unendlich komplexer das Verhältnis sich gestaltet. So schaffen Kunst und Spiel immer auch Freiräume, in denen erlaubt sein muß, was in der Wirklichkeit mit gutem Grund verboten ist. Theoretisch zumindest.

In der Praxis bewegen wir "modern Geborenen" (Jean Baudrillard) – und unsere postmodern geborenen Kinder erst recht! – uns aber in einer Lebenswelt, die selber von flimmernden Bildern beherrscht wird. Die meisten dieser Bilder sind darauf angelegt, primitive Reize zu stimulieren und zu simulieren – Reize, die quengeln: Ich auch, ich will!

Die Wirkmacht dieser bunten Bilder dürfte außer Zweifel stehen, auch das weiß jedes Kind. Kein Unternehmen gibt Geld für Plakataktionen, nächtliche Dia-Shows an Häuserwänden oder überdimensionierte Leuchtreklamen aus, um das Stadtbild zu verschönern, sondern dahinter steht knallharte Berechnung: Mindestens jedes zweite "Ich will auch!" gedeiht zu einem "Ich muß haben!" und damit zum kategorischen Imperativ, zum Maßstab des persönlichen Einvernehmens mit der Welt, wie sie ist.

Je mehr aber unser Alltag wie ein MTV-Video aussieht, desto schwerer fällt die Unterscheidung zwischen dem Schein, dem Sein und dem Nichts – desto schwerer auch die Einsicht in die Notwendigkeit, den eigenen Begierden Grenzen zu setzen aus Rücksicht auf andere, die doch im Drama der eigenen Selbstverwirklichung allenfalls als Nebendarsteller wahrgenommen werden.

Sind amoklaufende Jugendliche und Klassenräume unter Kriegsgesetz eine weitere kulturelle Modeerscheinung, die über den Atlantik nach Europa geschwappt ist? Wuchern sie wie Unkraut aus der vielbemühten, allgegenwärtigen "Mauer in den Köpfen" der Deutschen? Oder handelt es sich tatsächlich um die psychischen Störungen Einzelner, die dem Zwang, sich in der Masse kreativ zu behaupten, nicht anders begegnen können? Darauf gibt es wahrscheinlich keine klare Antwort.

Betroffenheitsbekundungen, Schweigeminuten, Blumensträuße und Mahnwachen bei Kerzenschein und die hysterische Forderung nach einer verschärften Filmzensur sind jedenfalls gleichermaßen Gesten der Sprach- und Hilflosigkeit einer Kultur, der die Kontrolle über ihre inneren Widersprüche entglitten ist.

 

Silke Lührmann hat Literaturwissenschaft in Marburg und Yale studiert. Zur Zeit schreibt sie an ihrer Dissertation zum Thema Gewalt und Fiktion.


 
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