© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/99 26. November 1999


Wissenschaftshistorie: Eine Tagung über philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen
Mikrokosmos Jena wiederentdeckt
Doruth Hofstede

An den mitteldeutschen Hochschulen beginnt man sich zu erinnern. Die in DDR-Zeiten lange vernachlässigte Hochschulgeschichte, die Erforschung vor allem geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen, erlebt zur Zeit an der Berliner Humboldt-Universität, in Greifswald, Halle und Jena einen beachtlichen Aufschwung.

Doch anders als in Westdeutschland, wo seit Mitte der achtziger Jahre der notorische Hang zur "Bewältigung" das wissenschaftshistorische Interesse anstachelte und zugleich auf die NS-Zeit begrenzte, werden die mitteldeutschen Bemühungen mehr vom Willen zur Selbstvergewisserung getragen, der weit zurückgreifen muß, um Ortsbestimmungen in einem Gelände zu ermöglichen, das im Nebel der SED-Ideologie nur verschwommen als "bürgerliches Zeitalter" und damit als minderwertige Vorgeschichte des vermeintlichen Arbeiter - und-Bauern-Staates wahrzunehmen war.

Seit 1990 kann man solche Reduktion hinter sich lassen. Damit wird der kultur- und geistesgeschichtliche Rang jener Universitäten wieder erkennbar, die auf jahrhundertealte Traditionen verweisen können, die aber nach 1949 in vielen Bereichen auf das Niveau von Parteihochschulen zurechtgestutzt wurden. Jena jedenfalls, das nicht zu Unrecht sogenannte "Saale-Athen", wird im Zuge jetzt einsetzender wissenschaftshistorischer Forschung darum bald wieder als eins der Zentren deutscher Geistesgeschichte ins allgemeine Bewußtsein rücken.

Einen kleinen Beitrag dazu leistete auch die am vergangenen Wochenende vom Insitut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena veranstaltete Tagung unter dem Titel: "Die Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen: Der Mikrokosmos Jena um 1900".

In Jena kochte vor dem Ersten Weltkrieg jene Ursuppe der Weltanschauungen, die als Zaubertrank verabreicht heterogene Kräfte freisetzte, vor deren erheblichen Risiken und Nebenfolgen kein Arzt oder Apotheker warnte. Für die siedende Temperatur in dieser Hexenküche sorgten jene Prozesse, die das Klima im gesamten Deutschen Reich bestimmten, die sich aber an neuralgischen Punkten wie Jena paradigmatisch verdichteten: Die forcierte Industrialisierung, die die idyllische thüringische Kleinstadt um 1900 in ein Zentrum der feinoptischen Industrie verwandelte, die damit einhergehenden sozialen Umwälzungen, der Einbruch des "Massenzeitalters", die Auflösung tradierter Lebensformen und Sinngehalte.

Viel war vom Krisenbewußtsein die Rede, das anstelle des brüchig gewordenen, noch relativ einheitlichen, abendländisch-christlichen Weltbildes nach Neuorientierungen verlangte. Und in Jena versammelten sich nicht wenige, die den Hunger nach neuer Weltanschauung zu stillen versprachen. So der Zoologe Ernst Haeckel, der Darwins Lehren zu einer monistischen Weltanschauung verdichtete, die als materialistische Popularphilosophie weiten Kreisen ein naturwissenschaftliches Weltbild vermittelte. Haeckels Jenenser Antipode, der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, behauptete dagegen eine neuidealistische "Höhenansicht des Lebens", die aber von der gleichen "Tendenz zur Totalität" (H. Lübbe) gekennzeichnet war wie Haeckels Monismus.

Wechselbeziehungen von Philosophie und Politik

Doch nicht nur Sinnstifter wie Haeckel und Eucken machten aus Jena einen Schnittpunkt geistiger Bewegung. Das lebensreformerische Milieu artikulierte sich im Verlag von Eugen Diederichs, vor allem aber in dessen Zeitschrift Die Tat. Bildungsreformerische Bestrebungen, die sich in den Volkshochschulgründungen nach 1918 erst richtig auswirkten, nahmen in Diederichs Sera-Kreis und Freistudentischen Diskussionszirkeln ihren Ausgang.

Mit Gottlob Frege lehrte der Begründer der modernen mathematischen Logik in Jena, dessen Schüler Rudolf Carnap als Exponent des vorgeblich weltanschauungsfreien logischen Positivismus dem Geist der Lebensreform tief verpflichtet blieb. Zahlreiche Fäden verbanden Jena überdies mit dem benachbarten Weimar, wo Rudolf Steiner als Goethe-Editor die Grundlagen seiner anthroposophischen Lehre legte, wo das Nietzsche-Archiv den Mittelpunkt eines weitausgreifenden Kults um den Philosophen bildete.

Für die Tagung hatte man versprochen, diesen Mikrokosmos um 1900 auszuleuchten, aber auch die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und Politik bis in die Weimarer Republik und ins Dritte Reich hinein zu verfolgen. Letzteres gelang leider nur unvollkommen, da die Referenten, die anhand der akademischen Karrieren des Neukantianers Bruno Bauch (1877–1942) und des Rechtsphilosophen Carl August Emge (1886–1970) bis in diese Zeit vorstießen, zu stark an typisch bundesdeutschen Schablonen klebten.

So kamen wieder einmal zu unverdienten Ehren: der deutsche Sonderweg, die Abstiegsangst der akademischen Mandarine, der seit Georg Lukás so beliebte "Irrationalismus" bürgerlicher Krisenreaktion, natürlich auch die im Vergleich zu ihren gründlich umerzogenen jungen Kritikern so mangelhaft ausgebildete Wertschätzung westlicher Glücksverheißungen.

Auch einige Diskussionsteilnehmer aus den "alten Bundesländern" übten sich in solcher ideologisch-intellektueller Traditionspflege, als sie trotzig weiter vom "Faschismus" redeten, wenn sie den Nationalsozialismus meinten.

Ansonsten versuchten die anderen Referenten, die sich mit Haeckels Monismus (Paul Ziche), mit dem kosmopolitischen Eucken (Uwe Dathe), mit Freges politischem Engagement und seinen Sympathien für Ludendorff und Hitler (Wolfgang Kienzler), mit Friedrich Gogartens theologischer Deutung der modernen Kultur (Christian Danz), Max Schelers Suche nach Weltanschauung (Johannes Weiß), Herman Nohls Pädagogik (Ralf Koerrenz) und Eberhard Griesebachs nachmetaphysicher Ethik (Klaus-M. Kodalle) beschäftigten, das politisch korrekte Korsett zumindest zu ignorieren. So schufen sie die Basis für lebhafte, erfrischend ungezwungene Diskussionen, frei von den Gereiztheiten und der Zensuratmosphäre westdeutscher Podien und Seminare.

Die Sehnsucht nach der idealen Gemeinschaft

Den Referenten mitunter gar nicht bewußt, zog sich durch alle Vorträge wie ein roter Faden, daß die Sehnsucht nach einheitlicher Weltanschauung die strukturelle Ähnlichkeit der aus dieser Sehnsucht erwachsenen und dann politisch links wie rechts instrumentalisierten Ideologien bedingte. Daß der "neue Mensch", die "eigentliche Existenz", die ideale Gemeinschaft jenseits von Kapitalismus und Kommunismus keine deutschen Sonderwünsche ausdrückten, blieb freilich etwas im Hintergrund. Hier stehen vergleichende Untersuchungen noch aus.


 
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