© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


Dokumentation: "Überlegungen zum Kunstprojekt im Reichstagsgebäude" von Hans Haacke
"Nicht einem mythischen Volk verantwortlich"
Hans Haacke, im Oktober 1999

Zum ersten Mal sah ich das Reichstagsgebäude 1984 bei einem Sonntagsspaziergang im Tiergarten. Auf der weiten Wiese vor Wallots malträtiertem Koloß spielten Kinder. Der Bau verstellte den Blick auf die Mauer im Osten. Im Gras lagerten Großfamilien. Der Geruch von gegrilltem Lamm hing in der Luft. Fast eine Idylle. Mir ging durch den Kopf, daß Scheidemann von einem Fenster des Reichstags 1918 die Republik ausgerufen hatte – und daß diese Republik im selben Haus fünfzehn Jahre später in Flammen aufgegangen war.

Ich erschrak aber über etwas anderes. Auf dem Architrav des Portikus las ich in riesigen Bronzelettern die Inschrift: DEM DEUTSCHEN VOLKE. (…)

Das Adjektiv "deutsch" und das Substantiv "Volk" haben im gesellschaftlichen Leben Deutschlands im Laufe des gesamten 20. Jahrhunderts eine zwiespältige und oft unheilvolle Rolle gespielt. Der Begriff "Volk" ist laut Lexikon durch ein gemeinsames kulturelles Erbe, historisches Schicksal, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und kulturelle, religiöse und sprachliche Unterscheidung charakterisiert.

Es waren deutsche "Volksgenossen", die einem Führer zujubelten, als er zu ihnen von "Deutschtum", von "Volksdeutschen" und rassehygienischer "Volkstumspolitik" sprach. Seine Reden waren im Völkischen Beobachter nachzulesen. Gegen Ende seines Krieges mobilisierte der Führer Kinder und Greise im "Volkssturm". Das vom Ministerium für "Volksaufklärung" verwaltete "gesunde Volksempfinden" säuberte die Museen von undeutscher, entarteter Kunst. Vom "Volksgerichtshof" verhängte Todesurteile gegen "Volksschädlinge" wurden "im Namen des Volkes" vollstreckt. Ob ein Mensch als dem deutschen Volk zugehörig erachtet wurde, konnte über sein Leben entscheiden. Einer der Söhne der Bronzegießer, die die Buchstaben für den Weihespruch DEM DEUTSCHEN VOLKE hergestellt hatten, endete in Auschwitz, der andere in Berlin-Plötzensee. Kein Jude, kein Sinti und kein Roma galt als Deutscher. 113 Abgeordneten des Reichstags wurde die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Von ihnen kamen 75 in der Haft um. Acht verübten Selbstmord.

In den Jahren 1945 bis 1989 wurde der Volksbegriff auf dem wenige Schritte hinter dem Reichstagsgebäude beginnenden Territorium in anderer Weise interpretiert. Gesetze wurden dort von einer "Volkskammer" verabschiedet. Das Militär hieß "Volksarmee". Entsprechend sorgte eine "Volkspolizei" für Ruhe und Ordnung im Lande. Es wurde in "Volkseigenen Betrieben" gearbeitet. Als die Arbeiter am 17. Juni 1953 streikten und sich den Panzern der Oberen entgegenstellten, bot Bertolt Brecht eine Lösung an: "Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?" Die Regierung machte den Fehler, dieses Patentrezept nicht anzunehmen. 1989 bekam sie zu hören: "Wir sind das Volk!" (…)

Und die vielen Millionen, die seit Jahrhunderten – bis in unsere Gegenwart – zur Arbeit nach Deutschland geholt worden sind, die hier Zuflucht gesucht haben, in Kriegswirren "hängengeblieben" oder "normal" eingewandert sind, deren Namen man im Telefonbuch findet und deren Kinder auf deutschem Boden geboren und in die Schule gegangen sind? Disqualifiziert sie ihr Ahnenpaß für die Zulassung zum "deutschen Volk"?

Beschlüsse des Bundestages betreffen alle Bewohner der Bundesrepublik – gleichgültig ob sie gemäß der Definition des Lexikons oder irgendeiner anderen Begriffsbestimmung zum "deutschen Volke" gehören. Den Entscheidungen der Abgeordneten unterliegen zahllose Menschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben und nicht berechtigt sind, in der Bundesrepublik zu wählen. Die am Westportal des Reichstagsgebäudes proklamierte Exklusivität ist aber auch angesichts der fortschreitenden Integration Europas und der globalen Verflechtungen der Bundesrepublik zunehmend fragwürdig. (…)

Fur ihre Entscheidungen sind die Bundestagsabgeordneten nicht gegenüber einem mythischen Volke, sondern gegenüber DER BEVÖLKERUNG verantwortlich. Im Gegensatz zur Fiktion einer deutschen Stammeseinheit ist das Territorium (lat. Terra = Erde, Boden, Land) der Bundesrepublik eine völkerrechtlich definierte und anerkannte Realität, deren materielle Existenz in die Erde eingelassene Grenzsteine markieren. Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht entwickelt sich weg vom ausschließenden "Blutsrecht" (jus sanguinis) und hin zum ökumenisch integrierenden "Bodenrecht" (jus soli). Der Boden der Bundesrepublik ist unterschiedslos allen, die innerhalb ihrer Grenzen leben, gemeinsam. (…)

Das Zusammentragen von Erde aus allen Regionen der Bundesrepublik und ihre unwiderrufbare Vermischung im Hof des Reichstagsgebäudes ist eine antipartikularistische Gemeinsamkeit und Gleichheit bekräftigende symbolische Handlung. Es ist eine stille Geste – ohne begleitende Fanfarenstoße, Fahnen und Fackeln. Ihr entspricht das unspektakuläre Sprießen der in der Erde mitgeführten Samen und Wurzeln. Ihr Wachstum kennt keine Fototermine. In diesem Biotop am Sitz der Legislative ist – den Besuchern auf dem Dach wie den Besuchern der Website sichtbar – unterschiedslos das ganze Land vertreten. Die Bundestagsabgeordneten bringen mit ihrem Beitrag symbolisch zum Ausdruck, daß sie es als ihren persönlichen Auftrag verstehen, den Interessen der ganzen(!) BEVÖLKERUNG zu dienen, und daß sie sich zur Korrektur der nationalistischen exklusiven Parole auf der Fassade des Reichstagsgebäudes bekennen.

Die Vereidigung neugewählter Abgeordneter ist ein Akt, bei dem sie eine eher passive Rolle spielen. Das Herbringen von Erde aus ihrem Wahlbezirk erfordert dagegen Initiative und Engagement. Metaphorisch entspricht es dem Einsatz eines jeden für die res publica beim Gang zur Wahlurne. Die Einladung zur aktiven Teilnahme am Entstehen und an der ständigen Erneuerung eines künstlerischen Projektes ist zugleich eine Aufforderung an die Abgeordneten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Rolle Kunstwerke an ihrem Arbeitsplatz spielen sollen. Sogenannte Kunst am Bau hat für gewöhnlich einen statischen Charakter. Dieses auf Partizipation setzende Projekt ist dagegen – wie eine lebendige Demokratie – ein dynamisches Werk der Zusammenarbeit, ein unaufhörlicher Prozeß.

In dem aufs Äußerste kontrollierten Parlamentsgebäude ist das aus eingeschleppten Samen im Lichthof sich unvoraussagbar entwickelnde Biotop eine Enklave freier Entfaltung. Es ist ein Flecken, der keiner Regulierung unterworfen ist; der nicht dem Diktat unterliegt, alles und jedes zu planen. Er ist DER BEVÖLKERUNG gewidmet.

Hans Haacke, im Oktober 1999


 
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