© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


Literatur: Zum 55. Geburtstag des Schriftstellers Botho Strauß
Rätselhafter Einzelgänger
Werner Olles

Seine Bühnenstücke gehören inzwischen zu den meistgespielten an deutschen Theatern, und der Autor selbst gilt als "ein Kristallisationspunkt der Literaturkritik" (Gelfort/Dietschreit). Die Bewertungen reichen dabei von einem "Buchhalter gegenwärtiger und vergangener Moden" (Christian Schultz-Gerstein) bis hin zum "sensiblen Realisten" (Helmut Schädel). Und während die "progressistische" Literaturkritik Strauß verdächtigt, nach dem Scheitern der 68er Kulturrevolution das Irrationale wieder salon- und hoffähig gemacht zu haben, sehen andere in seinen literarischen Rätselbildern die spiegelbildliche Entsprechung einer vom Wahnsinn bestimmten Welt.

Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 als Sohn eines Lebensmittelberaters in Naumburg an der Saale geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er Germanistik, Soziologie und Theatergeschichte, brach seine Studien jedoch nach fünf Semestern ab und trat nach einem kurzen Intermezzo als Schauspieler auf einer Laienbühne mit eigenen literarischen Arbeiten in der Zeitschrift Theater heute hervor, bei der er sich von 1967 bis 1970 als Kritiker und Redakteur einen Namen machte. Anfang der siebziger Jahre ging er an die Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, wo er unter Peter Stein als Dramaturg arbeitete. Sein Theaterstück "Die Hypochonder" (1971) wurde von der Kritik jedoch eher negativ aufgenommen, und der Autor handelte sich erstmals den Vorwurf des "Esoterischen" ein.

Anerkennung errang er hingegen mit dem Drehbuch zu Maxim Gorkis "Sommergäste", das von Peter Stein verfilmt wurde. Der Durchbruch zur allgemeinen literarischen Beachtung gelang ihm – nachdem er 1976 ein Stipendium der Villa Massimo in Rom erhalten hatte – mit seiner Erzählung "Die Widmung" (1977), die den Leidensweg des von seiner Geliebten verlassenen Buchhändlers Schroubek und dessen zunehmende Vereinsamung und Depressivität schildert. Strauß galt jetzt als Protagonist der in den siebziger Jahren aufkommenden "Neuen Innerlichkeit".

Zu großen Theaterfolgen wurden auch seine Dramen "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" (1975) und die Szenenfolge "Groß und klein" (1978). Befreit von jeglichem Agitprop-Zeitgeist beschreibt der Autor die Stationen einer jungen Frau bei ihrer vergeblichen Suche nach Liebe und Geborgenheit in einer erkalteten Gesellschaft und schließlich ihre resignative Flucht in einen Zustand geistiger Verwirrung.

Das Leiden des Individuums in der Gegenwart schildert Strauß abermals in dem Stück "Kalldewey Farce" (1982), während in der artifiziellen und zeitkritischen Shakespeare-Anlehnung "Der Park" Oberon und Titania versuchen, in den beziehungsgestörten Menschen der Moderne wieder verschüttete sinnliche Energien zu wecken. Anders als im "Sommernachtstraum" verändern sich aber nicht die Menschen, sondern die Götter werden immer lustloser und langweiliger und damit menschenähnlicher.

Um das Scheitern der Liebe geht es auch in dem Drama "Die Fremdenführerin" (1986), wo sich ein deutscher Pädagoge während seines Urlaubs in eine griechische Fremdenführerin verliebt. "Die Zeit und das Zimmer" (1988), "Kongreß. Die Kette der Demütigungen" (1989) und "Schlußchor" (1991) schildern wiederum den Kampf und die Mißverständnisse zwischen den Geschlechtern und – auf eine fast peinigende Weise – die Unmöglichkeit der Liebe, wobei letzteres Stück zugleich eine Allegorie auf die Problematik der deutschen Wiedervereinigung ist.

Nur schwer einzuordnen sind dagegen die Prosa "Paare, Passanten" (1981) und "Der junge Mann" (1984). Die Grenzen von banalem Alltag und Phantasiewelt werden hier aufgehoben und fließen wieder ineinander. Die theoretischen Visionen und mit allegorischen, satirischen und essayistischen Momenten angereicherten Romanschriften fanden bei der Kritik nur geteilte Zustimmung. Vor allem nach dem achtzig Seiten langen Gedicht "Erinnerung ..." (1985) und dem "Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken" (1987) stehen sich Gegner und Anhänger von Strauß in einer Art unversöhnlichem Glaubenskrieg gegenüber. Manche Kritiker sehen gar eine "Wende in der Dichtkunst zum konservativen Kitsch" (Günter Schäble).

Strauß’ Auseinandersetzung mit der Verlogenheit der Medienwelt gipfelte in den beiden schwer verständlichen Texten "Fragmente der Undeutlichkeit" (1989) und "Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie" (1992) und schließlich in der zunächst im Spiegel und später auch in der Aufsatzsammlung "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (1998) erschienenen philosophisch-essayistischen Reflexion "Anschwellender Bocksgesang".

Nach der Veröffentlichung dieses inzwischen legendären Aufsatzes, in dem Botho Strauß schonungslos mit der Manipulation der Medien und der Heuchelei der veröffentlichten Meinung abrechnet und ein glaubwürdiges Bekenntnis zu einem einzelgängerischen Konservativismus ablegt, gilt er fortan neben Hans-Jürgen Syberberg und Martin Walser als einer der bedeutendsten "Rechtsintellektuellen" in Deutschland.

Die letzten Werke des mit dem Preis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1981), dem Jean-Paul-Preis (1987) und dem Georg-Büchner-Preis (1989) ausgezeichneten Autors: "Die Fehler des Kopisten" (1997), "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (1998) und "Der Gebärdensammler" (1999) vereinen erzählte Episoden, gesammelte Aufsätze und verstreut erschienene Texte aus jüngster Zeit.

Strauß, der auch Mitglied des PEN-Zentrums ist, kann zweifellos für sich in Anspruch nehmen, der einzelgängerischste und rätselhafteste unter den herausragenden und erfolgreichen Autoren der Gegenwartsliteratur zu sein: "Man hat den alten antiprometheischen Affekt, die Scham, verloren, abgeschüttelt wie einen überflüssigen Umhang, beim Übertritt in das Informationszeitalter. Denn Kommunikation wird nicht mehr mit technischem Titanentum in Verbindung gebracht, sondern ausschließlich mit ätherischer Menschenfreundlichkeit. (…) Die gute alte Straße mit der Chaosdynamik ihrer Gänger und Schritte... Das gute alte menschliche Gesicht, Bildträger der Seele und der Vision, dagegen wirken alle Phantasmen auf Pixelgrund wie einfältiger Spuk. Den Geschwindigkeiten entfliehe! Finde Bilder außerhalb des grenzenlosen Bilderverkehrs! (…) In Babylon fällt das Leben leicht, in Jerusalem aber stirbt man – ohne Jerusalem. Das einzig abrupt Neue ist die Abschaffung des Gegenteils. Es gibt nur Babylon und darin, im Netz einbeschlossen, das reine Jerusalem, ein Sprengsel Wahrheit."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen