© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Gewaltphantasien
von Moritz Schwarz

"Die Jugend ist verdorben, das Ende der Welt ist nahe", so ist es bereits bei antiken Autoren zu lesen. Entwarnung also, so könnte man meinen, denn die Welt steht immer noch. Doch nicht nur angesichts der grellen aktuellen Ereignisse von Meißen und Bad Reichenhall, sondern auch vor dem Hintergrund einer stetig steigenden Jugendkriminalität greift in Deutschland erneut und zu Recht die Sorge um eine zunehmend desorientierte Jugend um sich.

Doch mitnichten setzt man sich zusammen, läßt alten Hader ruhen, um mit vereinten Kräften dem Problem zu begegnen. Wieder nutzt jeder nur die Gelegenheit seine Rezepte, hinter denen ja in Wahrheit nichts weiter als die Lancierung der eigenen Weltanschauung steckt, unter dem Vorwand der alleinigen "Heilsbringung" einzufordern. Linke beklagen reflexartig mangelnde Sozialleistungen, Konservative machen die Kälte eines anonymen Sozialstaates verantwortlich. Die Medien sehen die Schuld bei den Politikern, und die Politiker klagen die enthemmten Medien an. Es sind nicht die wenigen Spitzen des Abstrusen, die sich manchmal sogar ganz zu Recht als Kunst bezeichnen, sondern es ist die falsche Struktur, mit der wir dem Extremen den Einzug in unsere Gesellschaft erlauben. Die entmythologisierte Billigkeit von Schrecken und Triebhaftem, die Interpretation des Abnormalen als legitime Form des Nervenkitzels ist der Fehler im System. Doch vor einer solchen strukturellen Zensur, die Raum für das Grundsätzliche läßt, also Sex-, Gewalt- und Horror-Phantasien nicht leugnet, und sich statt dessen bemüht, die Maßstäbe wieder zurechtzurücken, schrecken alle Parteien zurück.

Die Maßstäbe aber sind es, die uns erst eine positive Deutung der Umwelt ermöglichen. Und so liegt die Wahrheit der konservativen und der linken Thesen wohl auch in ihrer Vereinigung: Ohne soziale Chance sind Werte nicht glaubhaft. Ohne identitäres Deutungsmuster und kulturellen Maßstab sind soziale Leistungen lediglich versorgend, keinesfalls integrierend, und verfehlen damit ihren gesellschaftlichen und nationalen Zweck. Desorientierung und Frustration stellen sich ein: Die Gemeinschaft erscheint als bloße Gesellschaft, der Staat als Wohlfahrts-Zombie.

Es ist eben nicht nur eine gute Sozialpolitik, die die beste Kriminalpolitik ist, wie der Greifswalder Kriminologe Frieder Dünkel (Interview auf Seite 10) feststellt, sondern dasselbe gilt für eine gute Nationalpolitik. Eine Gesellschaft, die um die Integration ihrer Mitglieder bemüht ist, könnte vielleicht auch das Aggressionspotential auf den Schulhöfen vermindern.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen