© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Berlin: SPD und CDU einigen sich auf Fortsetzung der Großen Koalition / Justizsenator eingespart
Das Postenkarussell drehte sich
Ronald Gläser

In Berlin "110" zu wählen, ist nicht länger zwangsläufig gebührenfrei. Wer Polizeibeamte in Zukunft nach einem Verkehrsunfall bittet, den Schaden aufzunehmen, muß diese "Dienstleistung" bezahlen. Das ist einer der skurrilsten Punkte auf, den sich die Berliner Regierungsparteien zwei Monate nach der Abgeordnetenhauswahl geeinigt haben. Die Große Koalition will auch die 1996 nach einer Volksbefragung gescheiterte Fusion mit Brandenburg "möglichst bald" erneut in Angriff nehmen. Schließlich soll die Integration der fast 500.000 Ausländer in der Hauptstadt verbessert werden.

CDU und SPD haben auf Sonderparteitagen am Montag dieser Woche diese und andere Punkte der Koalitionsvereinbarung beschlossen. Während auf dem SPD-Parteitag die Parteispitze mit aller Kraft für die Neuauflage des Regierungsbündnisses mit der Union werben und heftige Kritik einstecken mußte, ging der CDU-Parteitag mit einer Zustimmungsrate von fast 90 Prozent schnell über die Bühne. Von den 362 Delegierten stimmten 320 für die Neuauflage einer Koaliton mit der SPD. Bei den Hauptstadt-Genossen waren es schließlich 167 Delegierte, die für den Koalitionsvertrag votierten, 136 stimten dagegen.

Auch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, daß die CDU gestärkt durch ihren Wahlsieg nunmehr den Ton angebe. Schließlich konnten sich deren Verhandlungsführer gegen den SPD-Landeschef, Peter Strieder, durchsetzen. Dieser hatte "Augenhöhe" mit der Union in Form eines vierten Senatsressorts gefordert. Dagegen hatte die CDU darauf beharrt, daß ihr vier Senatoren und der Regierende Bürgermeister, der SPD aber nur drei Senatorenposten zustehen würden.

Neben dem Innensenator wird also auch der Finanzsenator in Zukunft von der CDU gestellt. Peter Strieder wird künftig alle anderen attraktiven Aufgaben als neuer Supersenator wahrnehmen: Bau, Stadtentwicklung und Verkehr. Daß Strieder seine neue Stellung damit erkauft habe, daß er den Posten der bisherigen SPD-Finanzsenatorin Fugmann-Heesing leichtfertig aufgegeben habe, wird ihm von den eigenen Parteifreunden vorgeworfen.

Die ausgebootete Finanzsenatorin ging mit der Parteiführung hart ins Gericht. Diese sei "nicht zukunftsfähig". Da selbst Walter Momper ins Lager der Strieder-Gegner gewechselt ist, hat Strieder kaum Chancen auf eine Wiederwahl als Parteivorsitzender im kommenden Jahr.

Ein weiteres Superressort erhält die Arbeitssenatorin Gabriele Schöttler (SPD), die nunmehr für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen zuständig ist. Die bisherige Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) scheidet demnach aus dem Amt. 47 Tage zu früh, wie schnelle Rechner ermittelt haben, da ihr so der volle Pensionsanspruch entgeht. Sie wird sich nach vier Jahren im Amt mit den Übergangsgeldern in Höhe von rund 250.000 Mark trösten müssen.

Trotz der innerparteilichen Auseinandersetzungen bei den Genossen und der Siegesgewißheit bei den Christdemokraten ist die Bilanz der wochenlangen Koalitionsverhandlungen nüchtern betrachtet ein Erfolg für die SPD: Sie war der Verantwortung für das Finanzressort längst überdrüssig geworden, weil die leere Staatskasse der Hauptstadt keine politischen Spielräume ermöglicht. Berlin ist schließlich das wirtschaftliche Schlußlicht aller Bundesländer und seiner üppigen Bundeszuwendungen seit langem beraubt. Nun darf die CDU die unangenehmen Entscheidungen vertreten, wenn staatseigene Betriebe und Liegenschaften unter ihrem Wert verscherbelt werden.

Ein ganz anderer Minuspunkt bei der Neugestaltung der Ressorts ist die Zerschlagung des Justizressorts, dessen Reste der Verantwortung des Regierenden Bürgermeisters untergeordnet werden. Nach Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Nordrhein-Westfalen vergreift sich nun auch ein CDU-regiertes Land an der Unabhängigkeit der Justiz, die ohnehin schon sehr stark eingeschränkt ist.

Kritiker einer solchen Vorgehensweise bemängeln, daß dadurch die Justiz der Verwaltung untergeordnet wird, was die Gewaltenteilung, die Grundlage eines demokratischen Staates, enorm einschränkt. "Damit wird letztlich die Balance des staatlichen Machtgefüges zu Lasten der Bürger- und Freiheitsrechte des einzelnen beeinträchtigt", erklärten der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltsverein in einer gemeinsamen Erklärung zum Ergebnis der Koalitionsvereinbarung. In Schreiben an Diepgen, Böger und Strieder hatten der Vorsitzende des Richterbundes, Rainer Voss, und der Präsident des Anwaltsvereins, Michael Streck, die Politiker gebeten, für ein eigenständiges Justizressort einzutreten.


 
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