© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Duisburg: Die Evangelische Landeskirche im Rheinland setzt Pfarrer Dietrich Reuter vor die Tür
Eine moderne Form der Inquisition
Hans-Peter Raddatz

Duisburg-Laar, inmitten einer Industriezone nahe dem Ruhrorter Rheinhafen gelegen, ist seit 15 Jahren die Gemeinde des Pfarrers Dietrich Reuter (45), der seit 1996 über die Grenzen seiner Stadt hinaus von sich reden gemacht hat. Seinerzeit trat Reuter gegen die von Stadt und Muslimgemeinde geplante Einrichtung eines lautsprecherverstärkten Muezzinrufs auf und machte sich auf der Verfassungsbasis der negativen Glaubensfreiheit (Art. 140) zum Sprecher einer starken Opposition gegen die in der Stadt mehrheitlich als friedensgefährdend empfundene islamische Expansion. Er begründete den unübersehbaren Erfolg des Islam in Deutschland mit einem vorangegangenen Verlust christlicher Identität, der sich in einer nur scheinbar toleranten Beliebigkeit allem und jedem gegenüber niederschlage und – in anderer Ausprägung – bereits den Regimen der Nationalsozialisten wie der Kommunisten in Deutschland zu fragwürdigen Experimentiermöglichkeiten verholfen habe, die man seiner Meinung nach nun in Gestalt des islamischen Staatskonzepts nicht noch einmal wiederholen sollte.

Wer sich mit der Geschichte der evangelischen Kirche während des Dritten Reiches und der DDR-Zeit befaßt, dem erschließt sich in der Tat rasch und deutlich die strukturelle Affinität der kirchlichen Leitungsgremien zur totalitären Macht, die den Weg aus dem christlichen Bekenntnis in den politischen Opportunismus und zur aktiven Kollaboration öffnete. Im Rahmen der weiteren Entwicklung stehen Namen wie die des Stasi-Mitarbeiters Manfred Stolpe und des Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Jürgen Schmude, in unserer Zeit gleichermaßen für eine neue Form des machtorientierten Zynismus, der unter christlichem Deckmantel realpolitische Ziele verfolgt. Unter dem Eindruck dieser Tradition schien auch der Superintendent der Evangelischen Landeskirche im Rheinland, Volker Lauterjung, zu stehen, als er 1997 Pfarrer Reuter mit dem Verdikt des "Dissidenten" belegte, einem Terminus aus dem Sprachgebrauch linkstotalitärer Systeme, die bei der Beseitigung ihrer Gegner auf das Gewaltprinzip grundsätzlich nicht verzichten können.

Zwei Gemeindemitgliedern das Abendmahl verweigert

In den Fokus verwandter Mechanismen, die immer auch die vorbereitende Funktion der Sprache einsetzen, scheint sich Pfarrer Reuter seinerseits nun durch eine Maßnahme manövriert zu haben, die in diesen Tagen für erneutes Aufsehen sorgte. Nach zwei Abmahnungen verweigerten Reuter und sein Presbyterium am vergangenen Totensonntag einem Paar das Abendmahl, das seit längerer Zeit in der Gemeinde Gemeinsamkeit demonstrierte, obwohl es noch in anderweitigen Ehen (eine ist inzwischen geschieden) gebunden war. Der Pfarrer vollzog damit eine Handlung, die dem Vernehmen nach am Ende einer langen Kette sorgfältiger Gespräche und Ermahnungen stand und sich letztendlich auf die noch gültigen Glaubensfundamente der Bibel und des Heidelberger Katechismus gründet. Sie wurde nun allerdings mit Wirkung vom 23. November zum Anlaß einer "Beurlaubung" Reuters durch die zuständige Landeskirche Rheinland in Düsseldorf, die insofern einer vorläufigen Dienstenthebung gleichkommt, als sie mit dem Entzug des Schlüsselrechts und dem Verbot der Teilnahme am Gemeindeleben verbunden war. Die durch diese Vorgänge ausgelösten lokalen Presseberichte sprechen reflexhaft von in Laar um sich greifenden "mittelalterlichen Methoden" und einem "Pranger", an den Reuter die Betroffenen gestellt habe. Wenngleich es wohl nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre, im Rahmen des Abendmahlausschlusses auch die Adressen der Beschuldigten bekanntzugeben, so schienen letztere ihrerseits ganz gezielt den "Pranger" zu suchen, indem sie die schriftliche Ablehnungebegründung des Pfarrers eigenhändig in den Mitteilungskasten der Gemeinde hängten.

Diese und andere sekundäre Begleitumstände, insbesondere das routinemäßige Zusammenwirken der Kirchenleitung mit selektiv verfälschender Medienberichterstattung, verdeutlichen zwar das eingeschliffene Instrumentarium "politisch korrekter" Verhaltensweisen und Repressalien, sind jedoch nicht entscheidend für die grundsätzliche Beurteilung des Vorgangs selbst. Fundamentale Bedeutung für die Sonderstellung dieses Pfarrers in seiner Kirche hat seine Auffassung von dieser nämlichen Kirche als existentialer Handlungsgrundlage: "Die Kirche Jesu Christi spricht zunächst nicht einfach da, wo Funktionsträger oder Gremien das Wort nehmen, sondern da, wo sich in Übereinstimmung mit der Bibel und den christlichen Bekenntnissen geäußert wird."

Mit dieser Aussage stellt sich Reuter diametral gegen die explizite Willensbildung der EKD, die sich in einem seit etwa Ende der sechziger Jahre laufenden Prozeß in dem Maße von ihrer überkommenen Offenbarungsbasis löste, in dem sie sich einen zeitabhängigen, politisch-sozialen Handlungskatechismus als neuen Bezugsrahmen aneignete. In einer umfassenden, moral- und fundamentaltheologischen Neudefinition, die sich von der Segnung homosexueller Paare bis hin zum gemeinsamen Gebet mit dem Islam spannt und für die Aufnahme grundsätzlich aller zukünftig politisch-gesellschaftlich relevanten Aspekte offen ist, hat sich die Kirche von einem klar erkennbaren, für alle verbindlichen Kodex christlich autorisierter Leitlinien verabschiedet. Das Passepartout-Konzept dieses profanisierten Handlungsrahmens diktiert als oberste Maxime das strikte Verbot jeglicher "Ausgrenzung", das in simultaner Geltung mit dem noch nicht offiziell außer Kraft gesetzten "Altkodex" einen rechts- und orientierungsfreien Raum zur Besetzung mit neuen Bedeutungsinhalten verfügbar macht. Auf der Basis der Ausgrenzung christlicher Inhalte als grundsätzliche Orientierung trat an die Stelle der persönlichen Glaubensdimension auf der Basis von Bibel, Augsburger Konfession, Heidelberger Katechismus und Kirchengesetz graduell eine neue, kollektive Denkdoktrin, die den Menschen eine vor allem gegen die eigene Identität gerichtete Zwangstoleranz verordnete. Als kirchenpraktisches Ergebnis ließ sich unter dem Signum "Glauben" eine gestaltbare Denkwelt entwickeln, die den wechselnden Interpretationen der Landeskirchen nach Maßgabe politisch-sozialer Forderungen und Wunschbilder unterworfen wurde.

Von dem Gottesbegriff eines "Gangsters da oben" des Fernsehpfarrers Fliege bis zur rabulistischen Kosovo-Kriegsapologetik des EKD-Präses Manfred Kock, von der Beate-Uhse-Gedenktafel am St. Marien-Pastorat in Flensburg bis zur Abtreibungsofferte der Bischöfin Margot Käßmann an katholische Frauen reicht das enorme Spektrum der geistig-politischen Gestaltbarkeit evangelischer Prägung, das diese Kirche zum bedeutendsten Motor gedanklicher Nivellierung und ethischer Indifferenz in der deutschen Gesellschaft macht. Pfarrer, die sich diesem Diktat mediokrer Beliebigkeit entziehen und dem Kodex christlicher Leitlinien Geltung verschaffen wollen, gefährden ihre Existenz.

Der "sanften" Variante der evangelischen Selbstvernichtung sind in den letzten zehn Jahren bundesweit mehrere hundert Pfarrer zum Opfer gefallen, Menschen, die aus ihren Pfarreien entfernt wurden, weil sie sich vom ideologischen Mutationsprozeß nicht erfassen ließen und der Vorstellung nachhingen, ihre jeweiligen Landeskirchen könnten sich an den Wortlaut der Glaubensgrundlagen gebunden fühlen, weil sie von der aus ihrer Sicht legitimen Annahme ausgingen, ihre Kirche könnte noch etwas mit ihrer ursprünglichen "Geschäftsgrundlage", der Botschaft Jesu Christi, und den sich aus ihr ableitenden Handlungsanweisungen zu tun haben. Sie alle hatten sich durch die Zweigleisigkeit der alten Grundlagen und der neuen, zwangstoleranten Auslegungstechnik täuschen lassen und waren Opfer einer perfiden Inquisitionsform geworden, die eine besonders biegsame Form des gegen die gewachsene Identität gerichteten Opportunismus forderte.

Gegen die Abschaffung der Glaubensinhalte

Während die historische Inquisition die Befolgung einer vorgegebenen, starren Glaubensform erzwang, verlangt die moderne evangelische Inquisition eine vorausahnende Harmonisierung der noch geltenden, alten Lehre mit den schon geltenden, neuen Interpretationen der Kirchenleitungen, wobei getreu der ideologischen Mutation in allen Zweifelsfragen mit tendenziell gegen die traditionelle Lehre gerichteten Auslegungen gerechnet werden kann.

Damit ist eine ehemals allgemein verbindliche Universalordnung übernatürlichen Ursprungs in den Bereich der Kontingenz, der zeit- und fallabhängigen Umdeutung relevanter Handlungsnormen sowie der sich daraus ergebenden, konkreten Machtaneignung gerückt. Wenn Pfarrer Reuter für den Abendmahlausschluß von Ehebrechern abgestraft werden soll, während 1997 der Superintendent von Cottbus unter seinen Kirchenleitungskollegen mit der Abendmahlverweigerung für den damaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm ungeteilte Zustimmung auslöste, weil dieser den Abbau der wenig integrativen Berliner Türkenghettos forderte, dann beginnt sich ein völlig neuer Horizont absurder Irrationalität zu öffnen. Die ursprünglich für alle verbindliche, christlich-historische Ordnung ist zum ideologischen Programm umgeformt, dessen Geltungsbereich sich allerdings auf seine Autoren, die Landeskirchen, nicht erstrecken kann, weil sie nicht nur die fortlaufende Weiterentwicklung der politischen Umformung zu steuern, sondern auch im eigenen Machtinteresse die Durchsetzung des jeweiligen Gegenwartsstatus auf Gemeindeebene zu überwachen haben. Diese Entwicklungen, ihre geradezu schulmäßige, totalitäre Tendenz und das entsprechend marionettenhafte Verhalten ihrer Akteure sind in den letzten Jahren zum Gegenstand einschlägiger Ideologiestudien geworden, an denen sich besonders auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das ganz gewiß nicht im Verdacht des Konservatismus steht, wiederholt mit gut recherchierten Beiträgen beteiligt hat.

Die nun zur Maßregelung Pfarrer Reuters und zur Erläuterung der Kirchenposition abgeordneten Kontroll-Kommissare, Superintendent Lauterjung und Landeskirchenrätin Rösgen, haben anläßlich des Gottesdienstes am 28. November im Gepräch mit der Laarer Gemeinde keinen Zweifel daran gelassen, daß entsprechend der neuen Regeltechnik die geltende Lehre nicht mehr wörtlich zu nehmen, sondern aktualisierten Deutungen unterworfen sei, die der "Kirche" eine bessere Bewältigung der sich wandelnden Zeitprobleme ermöglichten. Unbeeindruckt von einem mehrheitlichen Auszug der Gemeinde aus der Kirche und lautstarken Forderungen nach Wiedereinsetzung des Pfarrers fügte Frau Rösgen hinzu, daß am logischen Ende dieses Umdeutungsprozesses das Verschwinden des einen oder anderen Glaubensinhaltes stehen könne, eine Bemerkung, die diejenigen Gemeindemitglieder, die noch zuhören mochten, nachhaltig verstummen ließ. Vor diesem Hintergrund ist die Meinung der Landeskirchenrätin, daß Reuter mit seiner Entscheidung "die Grenzen des Erträglichen" überschritten habe, nicht mehr als konsequent. Die Loslösung der Sexualität aus ihrem sozialisierenden Kontext in Ehe und Familie und ihre ethisch auflösende Verknüpfung mit der Ermunterung zur Abtreibung gehören zu den obersten Dogmen der "evangelischen" Ideologie. Unbeschadet der Möglichkeit, daß Reuter in Einzelaspekten des vorliegenden Falles unangemessen gehandelt haben könnte, besteht sein eigentlicher Verstoß in der Verletzung dieses Dogmas. Das Herunterfahren des menschlichen Bewußtseins auf die Steuerungsebene der sexuellen "Befreiung" als Erbe der links-grünen Revolution ist nicht nur unverzichtbares Herrschaftsinstrument der mutierenden Kirche, sondern verdeutlicht auch ihre Katalysatorfunktion für eine Globalgesellschaft, die auf diese fundamentale Kanalisierung ebenfalls kaum verzichten kann. Die faktische Dominanz dieser und verwandter Zusammenhänge bildet eine ganz wesentliche Motivation für die kirchlichen Leitungsgremien, ihre christliche Legitimation als Deckmantel für die graduelle Entchristlichung ihrer Organisation zu mißbrauchen. Angesichts der länger zurückreichenden Gegnerschaft des Superintendenten Lauterjung gegenüber dem ihm anvertrauten Pfarrer Reuter fällt es schwer, seiner Einlassung Glauben zu schenken, derzufolge die nun erfolgte Beurlaubung ausschließlich auf den angeblich unzulässigen Akt des Ausschlusses vom Abendmahl zurückzuführen, des Pfarrers islamkritisches Engagement hingegen hierfür ohne jede Relevanz sei. Wer sich mit der seinerzeitigen Berichterstattung beschäftigt, kann unschwer erkennen, daß das öffentliche Echo zu positiv für den Pfarrer und zu stark gegen die synkretistische Dialoglinie der Landeskirche gerichtet war, als daß es für diesen ohne jegliche Konsequenzen hätte bleiben können. Eher noch schwerer wiegt, daß Reuters Streben nach einer erkennbaren christlichen Identität auch gegen das Globalkonzept des evangelischen Chefideologen, des EKD-Präses Schmude, verstoßen hat. Dieser fordert nicht nur seit langem, hinsichtlich des Islam spezifische Rücksicht zu üben und nicht auf der Durchsetzung der Menschenrechte zu bestehen, sondern vertritt gemeinsam mit der Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach die These, daß der Gottesbegriff der deutschen Verfassung nicht eigentlich christlich, sondern "offen" zu verstehen sei. Schmude hat damit die (vorläufig) kürzestmögliche Formel für eine neue, globale Gesellschaftsform gefunden, die sich aus der Öffnung der ehemals christlich-abendländischen Identität für jedweden politisch-kulturellen Einfluß ergibt, eine Sichtweise, mit der Schmude keineswegs allein steht, sondern die sämtliche wesentlichen Bereiche der westlichen Gesellschaften, selbst weite Kreise der katholischen Kirche, erfaßt hat.

Die Entchristlichung der Kirche nicht akzeptiert

Pfarrer Reuter und ein Großteil seiner Gemeinde wollen sich weder allgemein an dieser Entwicklung beteiligen, noch wollen sie im besonderen die von ihrer eigenen Kirche oktroyierten Strukturen der Entchristlichung akzeptieren. Die zahlreichen Freitode entlassener Pfarrer werden als zusätzliches Zeichen ihrer übergeordneten Verpflichtung empfunden. Im Festhalten an der überkommenen christlichen Lehre sind sie, wie ihr Superintendent in dem ihm eigenen Fürsorgeverständnis der Presse mitteilt, "in der Kirche isoliert", eine Wahrnehmung, die bei Abwesenheit eines Offenbarungsverständnisses nachvollziehbar, wenn nicht sogar notwendig ist und daher auch die zynische Distanz zu denjenigen durchscheinen läßt, die im Prozeß der ideologischen Mutation auf der Strecke bleiben. Pfarrer Reuter allerdings kann auf dem Boden der christlichen Legitimation diese von der Offenbarung befreite Denkkategorie nicht übernehmen. Er will sich allein an der Dimension messen lassen, die er mit Recht als langfristig jeder Ideologie überlegen erwarten kann, da ihre Vollmacht letztendlich von gänzlich anderer Natur ist.


 
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