© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Jugendkriminalität: Ein Gespräch mit dem Kriminologen Frieder Dünkel über Ursachen und Ausmaß von Gewalt
"Gewalt wird als legitime Form akzeptiert"
Moritz Schwarz

Herr Professor Dünkel, der Amoklauf von Bad Reichenhall und der Lehrermord von Meißen haben das Thema Jugendgewalt wieder ins Rampenlicht gerückt. Sind dies furchtbare Einzelfälle, wie sie immer wieder vorkommen, oder aber Ausdruck einer Entwicklung, die uns Jugendgewalt in einer neuen Dimension beschert?

Dünkel: Es sind in der Tat furchtbare Einzelfälle, die in dieser Form allerdings in Deutschland bisher kaum passiert sind. Natürlich kennen wir so etwas aus dem Ausland. Für Deutschland ist das eher untypisch. Ich halte das allerdings nicht für eine symptomatische Entwicklung, die eine Gewaltlawine prophezeit. Aber es gibt natürlich andere Indikatoren, die vielleicht auf eine Veränderung der Jugendgewalt, sozusagen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, hinweisen. Vergessen Sie aber darüber nicht: zum Beispiel kommen nach wie vor sehr viel mehr Menschen durch den alltäglichen Straßenverkehr ums Leben als durch Verbrechen.

Was ist die relevante Form von Jugendgewalt; wie sieht das aus, was tatsächlich in größerem Maßstab auf uns zukommt?

Dünkel: Zunächst müssen wir einmal eine Analyse der jetzigen Situation vornehmen und uns fragen, wie sich das Phänomen tatsächlich in seiner Entwicklung gestaltet? Im allgemeinen verlassen wir uns auf die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes, die aber in ihrer Geltungskraft höchst eingeschränkt sind. Wir haben dort seit 1989 einen Anstieg der Tatverdächtigenquote unter Jugendlichen und Heranwachsenden zu verzeichnen. Dennoch habe ich gewisse Vorbehalte, daraus eine gesteigerte Gewaltbereitschaft und vermehrte Jugendkriminalität herauszulesen. Weil diese Zahlen ja zum Beispiel auch durch eine erhöhte Anzeigebereitschaft oder eine erhöhte Sensibilität der Öffentlichkeit für Jugendkriminalität zustande kommen können. Es gibt einige empirische Anhaltspunkte dafür, daß die polizeilichen Daten zu relativieren sind. Zum Beispiel: Mein Kollege Pfeiffer in Hannover hat herausgefunden, daß der wesentliche Anteil des Anstiegs der Raubdelikte in Niedersachsen auf Fällen mit einem Schaden von bis zu 25 Mark beruht. Ich selbst bin bei meinen Studien zu den neuen Bundesländern auf ein sehr interessantes Phänomen gestoßen: Wir finden dort erheblich mehr Gewalttäter auf der Ebene der polizeilichen Daten als auf der Ebene der Judikative. Betrachten wir die Verurteilten-Zahlen, also das, was die Gerichte dann tatsächlich als sanktionswert erachten, dann erhalten wir Zahlen, die unter denen in Westdeutschland liegen. Das heißt, die gesamte Mehrbelastung des Ostens in puncto Jugendkriminalität nach der polizeilichen Sichtweise verschwindet völlig und entpuppt sich sogar als eine geringere Belastung in den neuen Bundesländern. Man muß also sehr vorsichtig sein mit diesen Zahlen. Ich glaube gleichwohl, daß wir in den letzten zehn Jahren auch einen tatsächlichen Zuwachs der Jugend-Gewaltdelikte hatten, ganz einfach weil wir seitdem eine Zunahme der Probleme von Jugendlichen – Schule, wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit – haben. Es spricht manches dafür, daß Jugendkriminalität eigentlich steigen müßte, nach all den Theorien, die wir über Kriminalität entwickelt haben. Aber wir wissen eben nicht genau, wie stark der Anstieg tatsächlich ist und ob er so bedrohlich ist, wie das in der Öffentlichkeit im allgemeinen dargestellt wird.

Es ist also eine Frage des Ermessens?

Dünkel: Man muß eben differenzierter hinschauen. Es gibt Phänomene, die wir vor allem im Osten wahrnehmen: wie etwa die Orientierung an Gruppen. Gruppendynamik, situatives Verhalten, vor allem in Zusammenhang mit Alkoholkonsum: Also aus der Gruppe heraus am Wochenende...Das sind nicht immer sozial desintegrierte Jugendliche, die arbeitslos und ohne Bindung zu Familie oder Partner sind. Es sind durchaus auch integrierte Jugendliche, die sich allerdings – und diese subjektive Perspektive muß man mit einbeziehen – häufig perspektivlos fühlen und soziale Unsicherheit antizipieren: sie sehen voraus, daß sie in drei Jahren, wenn die Lehre vorbei ist, arbeitslos sein werden. So findet man oft den Zusammenhang, statistisch gesehen, zwischen Arbeitslosigkeit, sozialer Desintegration und Gewalt nicht, weil manche sich als Verlierer empfinden, obwohl sie in der Ausbildung sind.

Wie erklären Sie sich, daß in den neuen Bundesländern die Zahl von Festnahmen und Verurteilungen so weit auseinanderklafft?

Dünkel: Die Polizei nimmt dort offenbar Fälle auf, die sich nachträglich als geringfügig oder nicht nachweisbar herausstellen. Hier scheinen Prozesse stattzufinden, die wir im einzelnen noch erforschen müssen, man weiß noch nicht genau, warum diese Dinge in Ost und West so unterschiedlich verarbeitet werden. Das ist aber einfach mal als Phänomen zu sehen, es deutet daraufhin, daß die Brutalisierung, die in den Massenmedien immer wieder skandalisiert wird, sich doch wahrscheinlich auf relativ wenige Einzelfälle beschränkt.

Wo findet Jugendgewalt statt?

Dünkel: In diesem Zusammenhang sollte man mit einem Vorurteil aufräumen: Es wird immer von Gewalt in der Schule gesprochen. Bei unserer Untersuchung in Greifswald mit 1.500 Jugendlichen haben wir nicht nur nach Gewalt in der Schule gefragt, sondern danach, welche Gewalterfahrungen Jugendliche heute generell machen? Wo spielt sich das ab? Und da zeigte sich, daß nur jede vierte Gewalttat, die Jugendliche erleben, in der Schule oder auf dem Schulweg geschieht. Zehn Prozent fielen auf das Elternhaus. Und der Rest spielt sich im öffentlichen Raum, meist im Freizeitbereich, etwa Diskotheken ab.

Wen trifft die Jugendgewalt?

Dünkel: Jugendgewalt stellt sich als Gewalt unter Jugendlichen dar. Opfer und Täter sind in aller Regel aus der gleichen Altersgruppe und aus dem gleichen sozialen Milieu. Das sind oft Männlichkeitsrituale, da geht es um Machtpositionen innerhalb der Clique oder um den Vergleich verschiedener Cliquen. Auch stellt sich – das ergaben ebenfalls unsere Schülerbefragungen – die Jugendgewalt als einfache Körperverletzung – ohne Waffen, ohne irgendwelche gefährlichen Mittel – dar. Das ganze ist also eigentlich nichts Neues, das gab es schon früher. Die äußere Erscheinungsform ist vielleicht ein bißchen anders. Alle paar Jahre gibt’s dann einen Aufschrei, wenn bestimmte Taten passieren, aber auch das gab es immer schon.

Dann wäre ja alles weniger eine Frage der Kriminalität als einer aus dem Ruder laufenden Erziehung. Was aber ist dann mit Fällen wie Erpressung in der Schule?

Dünkel: Das ist innerhalb der Gewaltdelikte ein eher seltener Fall. Erpressung und das sogenannte Abzocken von Kleidern und anderem kommt natürlich vor. Zu den Ursachen möchte ich noch sagen: Jugendliche Gewalttäter hatten oft in ihrer Kindheit selbst Gewalterfahrungen. Das ist also so eine Art Sozialisationsphänomen. Im übrigen ist aber auch zu berücksichtigen, bevor man immer nach irgendwelchen Defektpersönlichkeiten sucht, daß der situative Kontext, in dem sich so etwas ereignet, eine ganz bedeutende Rolle spielt. Oftmals entsteht eine Eskalation aus der Situation heraus.

Sie beschreiben die Jugendgewalt als ein weitgehend konventionelles Phänomen. Gibt es über diese konventionelle Gewalt hinaus spezifisch zeitgenössische Formen, die mit Veränderungen in der Gesellschaft zusammenhängen?

Dünkel: Ja, man kann sagen, es ist heute schick, sich auf der rechtsextremen Seite zu engagieren und unter dieser Folie Gewalt einzusetzen. Das ist in dieser Dimension neu. Vor 30 Jahren war das noch nicht der Fall. Wir haben eben ein Defizit an Jugendpolitik in Deutschland, an jugendgemäßen Freizeitangeboten in vielen Gemeinden. Dann schließt man sich dort eben einer rechten Gruppe an. Was auch erwähnt werden muß, ist der Einfluß der Massenmedien. Ohne zu sagen, das führt geradewegs in die Gewalt, halte ich das, was wir da über uns ergehen lassen müssen, für schädlich. Man weiß inzwischen ja auch aus Befragungen, daß der Dauerkonsum von Kino- und TV-Gewalt abstumpfend wirkt. Gewalt wird nicht mehr als etwas Negatives empfunden. Von einem beachtlichen Teil der Jugendlichen wird sie inzwischen als legitime Form der Interessendurchsetzung akzeptiert. Das kann nicht hingenommen werden, denn wir leben in einer zivilisierten Gesellschaft.

Sie sind für eine konsequente Gewaltzensur in den Medien?

Dünkel: Ja!

Wenn Sie diagnostizieren, daß diese Jugendlichen sich nicht an die Konfliktregelungsformen halten, auf die die Gesellschaft sich geeinigt hat, dann ist es doch wohl eindeutig ein Werteproblem.

Dünkel: Ja, das ist es auch. Nur möchte ich jetzt nicht in die Ecke gestellt werden, die immer nur vom Werteverfall redet und davon, daß man jetzt nur die christlichen Werte wieder hochhalten muß, und alles geht in Ordnung. Es ist eine Erziehungsfrage, die Orientierung hin zu einer gewaltfreien Gesellschaft ist nicht dominant genug. Aber es ist ein allgemeines Phänomen: Der Staat ist gewalttätig, zum Beispiel gegen andere Staaten. Wir erleben, daß bestimmte Formen von Gewalt und Töten akzeptiert werden. Was den Jugendlichen vorgeworfen wird, ist nicht, daß sie Gewalt anwenden, sondern daß sie es auf eigene Faust tun und das staatliche Gewaltmonopol nicht beachten. Es geht hier um eine allgemein-gesellschaftliche Entwicklung.

Hat zum Ausufern von Gewalt nicht beigetragen, daß man Gewalt immer per se im Bewußtsein geächtet hat, was letztlich unglaubwürdig ist, denn die Jugendlichen merken ja unterschwellig, daß die Welt anders funktioniert. Wäre es deshalb nicht besser, einen positiven Gewaltbegriff zu entwickeln, von dem sich ein negativer dann scheiden läßt, als die Erziehung auf Gewaltfreiheit zu gründen?

Dünkel: Wie soll so eine positive Gewalt aussehen? Rechtsstaatlichkeit, das ist ja klar. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, daß nicht immer der Staat schlichtend eingreifen soll, sondern das müssen die Bürger wieder selber lernen. Und es gibt da auch ganz gute Ansätze: Konfliktschlichter im Strafrecht oder an Schulen. Das ist es, was ich mir unter einer jedenfalls gewaltfreieren Kultur vorstelle.

Sie sprachen vorhin das vielerorts mangelhafte Freizeitangebot an. Ist es aber nicht eine viel tiefere Verunsicherung, die die Jugend erfaßt hat? Extreme Orientierung auf eine Clique hin verweist doch meist auf ein Identitätsproblem?

Dünkel: Ja klar, aber warum schließen sie sich diesen Gruppen an? Sie könnten doch auch Pfadfinder werden oder in den Fußballverein eintreten, um Gemeinschaft zu erleben.

Vielleicht weil der Freizeitaspekt dieser Gruppen größer ist als ihr Gemeinschaftsaspekt: Was könnte diesen Jugendlichen Heimat geben?

Dünkel: Vielleicht sollten wir einfach mehr Geduld haben mit unserer Jugend. Auch die genannten Problemkinder und -jugendlichen integrieren sich mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Bis dahin gilt es, besonnen aber entschieden gegen Gewalt vorzugehen, wobei dem (Jugend-)Strafrecht hierbei nur eine untergeordnete Rolle zukommen sollte. Es gilt immer noch der bekannte Satz, daß eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist.

 

Prof. Dr. Frieder Dünkel, 48, lehrt Kriminologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greiswald.

 

Kriminalstatistik

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden bestätigt für die erfaßten Jahre bis 1998 den Eindruck einer stetig und rapide wachsenden Jugendkriminalität. Zunächst unterteilt die PKS den Begriff "Jugend" in drei verschiedene Reifesparten: Kinder (unter 14 Jahren), Jugendliche (14 bis 18 Jahre) und Heranwachsende (bis 21 Jahre). Die gut 692.000 Fälle in denen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende als Tatverdächtige ermittelt wurden, machen 30 Prozent der Kriminalstatistik aus. Die Tatverdächtigenstatistiken aller drei Altergruppen zeigen für 1998 einen Zuwachs von drei bis sechs Prozent. Vom ersten gesamtdeutschen Berichtsjahr 1993 bis 1998 wuchs die Anzahl der Verdächtigten um etwa 183.000 (mit teilweise zweistelligen Zuwachsquoten). Dabei betrug der Anteil der Mädchen 1998 je nach Sparte zwischen 20 und 30 Prozent, der der Jungen entsprechend 70 bis 80 Prozent. Aktuelle Zahlen, die eine Aufschlüsslung nach Ost und West anzeigen, stellt das BKA nicht bereit. Lediglich eine gesonderte Studie für das Jahr 1995, die Tatverdächtige bis 18 Jahre erfaßt, gibt an, daß die Tatverdächtigen-Rate in den neuen Ländern mit 22,4 Prozent deutlich höher liegt als im Westen mit 16,2 Prozent. Diesen Zahlen stellt das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover jedoch entgegen, daß die Polizeizahlen stets nur einen Teil der Wirklichkeit wiedergeben, da sie die Dunkelziffer naturgemäß nicht erfassen. Dies verzerre, so das Institut, das Bild.


 
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