© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Jubiläum: Schriftstellerverband feiert Gründung vor 30 Jahren
Brüche und Aufbrüche
Jutta Winckler

Der Kongreß tanzte zwar nicht, doch er lud breit ein: "Jubiläumskongreß – 30 Jahre VS" stand auf den gehefteten drei Blättern, versendet von der Bundesgeschäftsstelle des "VS in der IG Medien". Die Geschäftsführerin des Verbandes deutscher Schriftsteller, Sabine Herholz, hatte in den Kölner Gürzenichsaal gebeten, auf daß dort im Rahmen des Jubiläumskongresses vom 2. bis 4. Dezember der Gründung des Verbandes gedacht werde. Zugleich sollte an historischer Stätte über "die Geltung der Literatur im neuen Jahrtausend" nachgedacht werden. Ohne falsche Bescheidenheit wies Frau Herholz darauf hin, daß der VS "seit seiner Gründung vor dreißig Jahren Geschichte geschrieben" habe; 1969 sei es Heinrich Böll gewesen, der in seiner "legendären Gründungsrede",die "Einigkeit der Einzelgänger" und "das Ende der Bescheidenheit" proklamiert habe.

Der Einladung folgte dem Augenschein nach jeder, der in der moralinsauren Ästhetik-Szene der ’99er BRD Literatur produziert. Vom 90jährigen Literatur-Dino der Gruppe 47 bis zum 20jährigen Antifa-Internet-Saubermann wurde aufgeboten, was die west/östliche Reparationskolonie an öffentlich-rechtlich gebauchpinselten Federn hervorgebracht hat. "Gesponsert" wurde das Programm von der Kulturstiftung der Länder, der Stadtsparkasse Köln, dem Land Nordrhein-Westfalen, der Stiftung Kunst und Kultur, der Verwertungsgesellschaft Wort sowie der MERZnet AG/Köln.

Bereits am späten Donnerstagnachmittag hub der gewaltige Auftrieb des belletristischen BRD-Geistes an. Als erster von mehreren Wortgewaltigen trat Bundespräsident Johannes Rau vor das Auditorium und konstatierte frisch "einen Aufbruch der Literatur". Nicht von ungefähr sei die Sequenz "Bücher – Brüche – Aufbrüche" dem Kongreß als Motto vorangestellt worden. Die Autoren deutscher Zunge schickten sich an, so das bibelfeste Staatsoberhaupt, "aus einer resignativen oder gar selbstmitleidigen Stimmung herauszukommen und selbstbewußt in die Zukunft zu schauen". Rau weiter: "Eine ganze Reihe junger Autorinnen und Autoren macht in letzter Zeit von sich reden." Den einen Sommer, den derlei zeitgeistiges Flachgepinsel tanzen darf, verschwieg er barmherzig. Auch entstünden als ein gleichsam Verheißungsvolles in manchen Städten "Literaturhäuser und private Literatursalons". Mal schau’n, wie lange es der Stadtsäckel leidet.

Ins Pharisäische lappte Raus Sermon, als er die Sendung, gewiß eine sozialliberale, der hiesigen Autorenschaft mit "der Pflicht zur Wahrhaftigkeit" verknüpfte. Besagte Pflicht bestimmte er als "eine moralische", und wer besser könnte hier Sachwalter politischer Moralität sein als Bruder Johannes, der altgediente Parteiverweser? Wo Parteien sich doch durch ein besonders elaboriertes "Verständnis" von "politischer Kultur in diesem unseren Lande" auszeichnen. Damit das nicht so auffällt, arbeitet das Parteienwesen und seine schreibenden Claqueure periodisch wiederkehrend "Skandale" auf. Wozu es dann selbst das Personal stellt, Täter, Richter und Mahner in eigener Person. "Die Kompetenz für die moralische Einmischung von Autorinnen und Autoren in die öffentlichen Angelegenheiten liegt in ihrer Menschenkenntnis, der Kenntnis von sich und anderen." Auch Kenntnisse der politischen Ökonomie, der Warenästhetik, der Marxschen Wertlehre, die angewandte Lektüre von Pareto und Robert Michels dürften kaum schaden.

Ein "großer Analytiker und ein großer Geschichtenerzähler", so Rau, nahte mit erheblicher Verspätung. Als Megastar figurierte der jüngst zum Literaturnobelpreisträger gekieste Günter Grass. Der Hochmögende traf ein, als der NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) bereits eine Viertelstunde gesprochen hatte. Glänzend feuchten Auges applaudierte das Auditorium Grass, dient ein solcher Mann in den eigenen Reihen doch als nicht zu unterschätzende Krücke der Überzeugung, so übel könne die eigene Sache nun denn doch nicht sein. Zumindest der literarische Geist, so sehen es immerhin die Schweden, weht nach wie vor von links.

Das Clementsche Enkomion galt Köln, näherhin den Privatsendern RTL, VIVA und VOX als "führendem Medienstandort Deutschlands", von wo er die Brücke schlug zu den neuen Medien. Die elektronische Vernetzung von allem mit jedem, die Lahmlegung der Kreation, die Fixierung auf manisches Sammlertum, solche Rückkreuzung aufs findige PC-Tier pries Clement als "Bereicherung unserer Literaturszene". In exzellent komponierter Metaphorik deutete er die "Literaturbüros in NRW" als "Erste-Hilfe-Station" für "Neueinsteiger" zwecks Aufbau "literarischer Gründerzentren".

Von solchem Zuspruch gestärkt, erklomm der VS-Vorsitzende Fred Breinersdorfer das Podium: "Welcher Verband", hob er tremolierend an, "kann sich auf solche Väter berufen?" Die Rede war von Böll und Grass, die vor 30 Jahren beim Gründungskongreß die Strippen gezogen hatten. Neun von zwölf Forderungspunkten jener Ära seien mittlerweile erfüllt, die Verleger "gewerkschaftlich in die Schranken gewiesen worden", doch noch seien Punkte offen: die "Urhebernachfolgevergütung, die Verbesserung der finanziellen Arbeitsbedingungen sowie deren Mitwirkung an öffentlichen Aufgaben".

In Zukunft sei der Autor auch sein eigener Verleger, was Off- und Online-Medien ermöglichten; nicht leicht marktgängiges Material ließe sich auf diese Weise fördern, wenngleich die neue Mediennetzwelt Probleme mit dem Urheberschutz brächte. Besonderes Augenmerk sei darauf zu richten, "daß die deutschsprachige Literatur wieder exportfähig werde".

Der Kongreß teilte seine Zuwendungszeit in zwei "Aufbrüche": der eine galt den"Genres", der andere den "Märkten und neuen Medien". Für Lyrik waren Rühmkorf, Hensel, Buchwald und Arnold zuständig; um das Sachbuch kümmerten sich Wallraff, Daniela Dahn, Christoph Links und Hans-Peter Martin vom Spiegel. Den Roman traktierten Uwe Timm, Thomas Brussig und Martin Hielscher vom Kiepenheuer & Witsch-Verlag; auch die Kinder- und Jugendliteratur kam vor, ein Genre, in das hineinzuschauen sich verantwortungsvolle Eltern nicht nehmen lassen sollten, strotzt es doch mittlerweile vor Geschichtsklitterung und Lügen über die deutsche Vergangenheit.

Kriminalroman und Übersetzungsgeschäft wurden thematisiert, leider vergaß man die Lizenzennehmerei aus der angloamerikanischen Welt zu geißeln. Dabei findet selbst gediegene Belletristik aus Mecklenburg oder Nürnberg hierzulande keinen Großverleger. Auch veritable Ausländer traten in Erscheinung: Es gibt sie, die Migrantenliteratur in deutscher Sprache, doch abgesehen vom Bonner Katzenfetischisten Pirinci ("Felidae") kreisen sie um stets ein und dieselbe Multi-Kulti-Problematik.

Eine Runde aus Verlagsgewaltigen und Literaturagenten vivisektierte abschließend den Buch- und Medienmarkt der Gegenwart, bevor das Publikum sich – gegen fünf Mark Eintritt – den "ästhetischen und inhaltlichen Herausforderungen" von Literatur im Internet stellen konnte. Manches junge Paar hatte im Internet-Café Platz genommen und surfte, was das Zeug hielt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen