© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Wandel in der SED: Vor zehn Jahren wurde Gregor Gysi als Vorsitzender gewählt
Neue Besen für die alte Partei
Kai Guleikoff

Im Dezember 1989 glich die DDR einem Tollhaus. Nach wie vor setzten sich Tausende hochqualifizierte Facharbeiter und Wissenschaftler mit ihren Familien in den Westen ab. Obwohl, im Rückblick gesehen, viele Zahlenangaben zu Flüchtlingen und Übersiedlern medienwirksam übertrieben wurden, entstand ein immer deutlicher werdender Arbeitskräftemangel. Wehrpflichtige wurden immer zahlreicher in der Produktion und Dienstleistung eingesetzt bzw. wurden durch die Betriebe zurückgehalten. Die SED-Mitglieder waren aufgerufen, die Lücken durch Mehrarbeit zu schließen.

Doch das in 40 Jahren eingespielte System funktionierte nicht mehr. In den letzten zwei Monaten hatten nahezu 200.000 Genossen ihre Parteibücher zurückgegeben, davon waren 70 Prozent Arbeiter. Das System Krenz, zur "Wende" angetreten, bekam keinen Boden unter die Füße. Dem Zentralkomitee blieb keine andere Wahl, als einen Sonderparteitag im Dezember 1989 einzuberufen.

Selbst engste Freunde, wie der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Claus, rieten Krenz, von einer erneuten Kandidatur als Generalsekretär abzusehen. Am 3. Dezember traten Politbüro und Zentralkomitee geschlossen zurück. Honecker, Stoph, Mielke, Tisch, Mittag und Sindermann wurden zuvor wegen "parteischädigendem Verhalten" aus der SED ausgeschlossen.

An die Stelle der alten Führungsorgane trat ein geschäftsführender Arbeitsausschuß. Ihm gehörten die neugewählten 1. Bezirkssekretäre und diejenigen an, die sich als Vertreter der "SED-Opposition" sahen, wie Rechtsanwalt Gregor Gysi, Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und MfS-Generaloberst a.D. Markus Wolf. Gysis Rolle wurde sofort herausgestellt, indem ihm der geschäftsführende Arbeitsausschuß den Vorsitz über den parteieigenen Untersuchungsausschuß übertrug. Schon dadurch wurde der "kleine Doktor" zum Frontmann der sich reformierenden SED.

Gysi hatte bereits Ansehen in der "alten" DDR erworben. Als Sohn des Kulturministers und späteren Botschafters in Italien, Klaus Gysi, hatte er ausgezeichnete soziale Voraussetzungen für eine Karriere als Rechtsanwalt. Als SED-Mitglied "durfte" er die Regimeabweichler Havemann und Bahro gerichtlich vertreten. In der unmittelbaren Vorwendezeit erfolgte 1988 seine Wahl zum Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte in der "Hauptstadt Berlin". Gysis heutige Selbstdarstellung als "kleiner unbekannter Advokat aus Berlin" kann nur Heiterkeit auslösen.

Am 3. Dezember, nach 22 Uhr, wurde Krenz vom sowjetischen Botschafter Kotschemassow darüber informiert, daß Gorbatschow Krenz am folgenden Tag im Kreml erwarte. In Begleitung von Modrow erfährt Krenz seine de facto Entlassung als Staatsoberhaupt der DDR. Gorbatschow will seinem Favoriten Modrow die günstigsten Voraussetzungen schaffen für die bevorstehenden Gespräche mit Kohl am 19. Dezember in Dresden. Gehorsam akzeptierte Krenz und bedankte sich auf russisch bei Gorbatschow für die Zusammenarbeit. Dessen abschließende Umarmung mußte Krenz vorgekommen sein wie der im Bild verewigte Bruderkuß Gorbatschows mit Honecker zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR.

Am 6. Dezember erfolgte dann die offizielle Rücktrittserklärung. Gysi und Modrow bestimmten den weiteren Entwicklungsweg. Am 8. Dezember 1989 begann der erste Teil des SED-Sonderparteitages in Berlin. Aus der ganzen DDR waren 2.700 Delegierte angereist, die ihren Emotionen erstmals öffentlich freien Lauf ließen. Sinnvolles und Sinnloses kam zu Gehör. Die Troika Gysi, Modrow und Berghofer konnte sich durchsetzen. Gysi wurde am 9. Dezember mit 95,3 Prozent der Delegiertenstimmen Parteivorsitzender, Modrow und Berghofer seine Stellvertreter. Der allgemeine Begriffswandel machte auch vor der SED nicht halt. Das Politbüro wurde zum "Parteipräsidium" mit elf Mitgliedern, das Zentralkomitee zum "Parteivorstand" mit 99 Mitgliedern.

Der zweite Teil des Sonderparteitages am 16. Dezember 1989 beschloß den Zusatz "Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)" zum Parteinamen SED. Die auseinanderbrechende Partei konnte mit etwa 700.000 verbliebenen Mitgliedern in das Einheitsjahr 1990 gerettet werden.


 
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