© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Preis der Gesundheit
von Alfred Keck

Mit der "Gesundheitsreform 2000" ist die rot-grüne Regierungskoalition angetreten, ein "Jahrhundertwerk" für den Schritt ins 21. Jahrhundert über die parlamentarische Bühne und die Parteihürden zu bringen.

Geordnet werden müssen der ungeheure Klientelstreit, der Interessenkonflikt zwischen der Gesundheitspolitik (dem Staatsbudget), den Anbietern von Leistungen und Gütern im Gesundheitswesen wie der Pharmazie, der Apotheken, Drogerien, und den Gesundheitseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Kur- und Rehabilitationseinrichtungen, Arzt- und Zahnarztpraxen. Zu vertreten sind die 2,2 Millionen Beschäftigten im deutschen Gesundheitswesen, die über eine Million Beschäftigten in sozialen Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen sowie die "Endverbraucher", die 82 Millionen Bürgern und Patienten. Auf dem Gesundheitsmarkt werden unvorstellbar große Summen bewegt. Im Jahr 1996 zirkulierten rund eine halbe Billion Mark in diesem Bereich. Den größten Anteil zahlen davon die Krankenkassen.

Das ist ein Titanenwerk ungeheuren Anspruchs. Immerhin gibt es in unserem Lande etwa 71 Millionen Versicherte, die alle wissen, was sie in die Sozialkassen eingezahlt haben. Man pocht auf seine "Ansprüche", erworbenen Rechte für das medizinisch und sozial Optimale, wenn schon nicht das in jedem Fall von Krankheit, Erkrankung, Invalidität, beim Arztbesuch bzw. beim Krankenhausaufenthalt Bestmögliche nach den modernsten Erkenntnissen von medizinischer Wissenschaft und medizintechnischem Fortschritt.

Das ist ein Zeichen unserer Zeit in der konsumverwöhnten Anspruchsgesellschaft, keine Besonderheit des Gesundheitssystems, das in der Tat mehr als reformwürdig geworden ist.

Da steht Gesundheitsministerin Andrea Fischer auf einem "Feldherrenhügel" und will partout nicht "kapitulieren" vor den Heerscharen, wo Freund und Feind einer Gesundheitsreform kaum noch auszumachen sind. Ob ihr gelingt, was andere Gesundheitsminister vor ihr schon ähnlich wollten, die aber allesamt immer halbherzig auf der "Strecke" der Interessenkonflikte der Klientels blieben, ist sehr ungewiß. Helmut Kohl hatte wohl recht: Wenn man Wahlen verlieren will, muß man den Deutschen nur "Sozialreformen" zumuten. Niemand will auf etwas verzichten, niemand will sparen, zumindest nicht bei sich, kaum einer will "Teilung durch teilen überwinden", zumindest kaum "freiwillig". Also dürften alle Reformen, auch die Gesundheitsreform nur dann Erfolg haben, wenn die davon Betroffenen auch weitgehend davon überzeugt sind, daß das "Richtige in die richtige Richtung" erfolgt, es verteilungs- wie zugleich beteiligungsgerecht ist. Wenn sich eine Reform in polarisierende Gegensätze zwischen Gewinnern und Verlierern verirrt, verliert sie den Anspruch des Reformierens und wird scheitern.

In diese Gefahren scheint der Dauerstreit zwischen den Akteuren der "Gesundheitsreform 2000" und ihrer Opposition geraten zu sein. Der letzte Gesundheitsminister der Ära Kohl, Horst Seehofer, dessen "Drei-Stufen-Gesundheitsreform" auch gescheitert ist, dem genausowenig eine "Kostendämpfung" im deutschen Gesundheitssystem gelang wie seinen Vorgängern, will einen Paradigmenwechsel in der medizinisch bzw. sozialen Betreuung und Versorgung der Bürger/Patienten. Ein "Paradigmenwechsel" heißt auf gut deutsch, ein anderes "Muster, anderes Beispiel, andere Vor- bzw. Leitbilder usw.".

Seehofer, Stellvertreter von Stoiber, schlug unter anderem vor: Nach jedem Arztbesuch sollte der Patient künftig eine Aufstellung der Leistungen und Kosten bekommen. Ganz davon abgesehen, daß das die meisten Praxen gar nicht sofort können, rechnet Seehofer offenbar nicht mit den langen Gesichtern und den Ärgernissen der Patienten. Er sagt weiter: Der Staat (sprich die Sozialkassen) sollte sich mehr zurücknehmen und Ärzten und Krankenkassen mehr Spielräume im "Vertragsgeschäft" lassen. Abschied von der Solidargemeinschaft? Außerdem fordert er – wie auch andere aus der CDU/CSU und FDP – noch mehr "Wahlfreiheit für die Versicherten durch Einführung verschiedener Leistungskataloge, unter denen die Versicherten auswählen können. Dann gibt es die medizinische Kernleistung auf Spitzenniveau, unabhängig von Alter und Einkommen. Wer aber mehr oder weniger will, der kann das gegen ’Aufpreis‘ oder ’Abschlag" vereinbaren. Ich halte Unterschiede von zwei Beitragspunkten durch diese Wahlfreiheit für möglich."

Das ist der Ausbau einer schon jetzt real vorhandenen "Zweiklassenmedizin": eine "Reichen- bzw. Wohlstandsmedizin" und eine "Armenmedizin" nahezu als Nachahmung des amerikanischen Musters. Das wäre die pure Selbstregulierung auf dem "Gesundheitsmarkt" bis zur Folge: Weil du arm oder nicht finanzkräftig genug bist, mußt du mehr, länger leiden, warten oder auch früher sterben, denn Geld macht doch glücklicher, wie neuere Untersuchungen von Soziologen und Psychologen herausgefunden haben wollen.

Das so gestrickte "Gegengesetz" zum "Struktur-Gesetz" der Regierungskoalition Schröder setzt eindeutig auf eine andere "Beteiligungsgerechtigkeit" als bisher. Es setzt auf mehr Eigenbeteiligung durch Bürger/Patienten, sprich Zuzahlungen auf breiter Front.

Was heißt dieser "Paradigmenwechsel" eigentlich? Letzten Endes wird alles durch den Bürger, der irgendwann einmal Patient wird, bezahlt. Er zahlt als Steuerzahler, weil die Zuschüsse des öffentlichen Haushaltes zur Finanzierung der Gesamtausgaben des Gesundheitswesens aus den Steuern resultieren. Es zahlen die Versicherten Beiträge an die Kassen. Arbeitgeber entrichten ihren Anteil, und privat müssen immer mehr Zuzahlungen aufgebracht werden. Die Patienten erhalten nicht einen Pfennig zurück. Immer sind sie mit dabei, wenn es um die Finanzierung bzw. Mehrfinanzierung geht. Das wirft die Gretchenfrage auf: Wie hoch darf denn überhaupt in Deutschland die Beitragslast durch Rentenversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Pflegeversicherung sein? Bezogen auf die durchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme (Arbeitnehmer und Arbeitgeberanteil zusammen) ist sie von rund 36 Prozent im Jahre 1991 nunmehr auf rund 42 Prozent angestiegen. Rechnet man dann die Steuerbelastung hinzu, dann wird mehr als deutlich, daß die Belastung der Deutschen mit Steuer, Sozialbeiträgen und Verwaltungsgebühren wachstumsschädigend, innovationsfeindlich, ungerecht und unverträglich hoch ist.

Es besteht überhaupt kein Zweifel darüber, daß es in Deutschland eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gegeben hat, die vielerlei Ursachen hat. Heute leben doppelt soviel Menschen in Deutschland wie vor 100 Jahren (etwa 82,5 Millionen), rund 5,5 Millionen mehr Aussiedler, Ausländer, Flüchtlinge und Asylsuchende als 1989. Das Mehr an Population muß medizinisch und sozial betreut und versorgt werden. Die Geburtenrate ist gesunken, die Sterblichkeitsrate gestiegen, die Säuglingssterblichkeit wurde erheblich gesenkt, auch die Müttersterblichkeit. Die Lebenserwartung steigt und steigt, liegt bei Frauen um 17 Jahre und bei Männern um fast 14 Jahre höher als vor 65 Jahren.

Der Altersaufbau hat sich zugunsten der Älteren verschoben. Waren 1939 nur 28 Prozent der Bevölkerung älter als 45 Jahre, sind es heute fast 42 Prozent, Bereits in 10, 15 Jahren werden es mehr als 50 Prozent sein. Und: Der durchschnittliche Eintritt in die Rente/Pension beträgt heute zwischen 58 und 59 Jahre. Der Aufwand für Medikamente bei einem 78jährigen beträgt gegenüber einem 28jährigen 1.500 Prozent, bei den Krankenhauskosten ca. 1.000 Prozent und liegt bei ambulanter Betreuung immerhin noch bei 500 Prozent. Die segensreiche Diagnostik, die der Therapie, Nachsorge usw. lassen – bei wachsenden Mehrfacherkrankungen – die Lebenserwartung und auch zumeist die Lebensqualität verbessern. Das ist gut so. Gesundheit ist teuer, wird immer teurer! Die Kosten steigen. Der Anspruch an das "Gesundheitsbudget" wird immer größer, damit auch der Druck auf neue Finanzierungsquellen. Das "Gesundheitsbudget" ist rascher gewachsen als das erzeugte und verteilbare Sozialprodukt.

Im Jahre 1980 betrug der Anteil des Gesundheitswesens in seiner Ganzheit noch rund acht Prozent, heute beträgt der Anteil etwa zehn bis elf Prozent (je nach Berechnung). Damit nimmt Deutschland nach den USA den zweiten Platz in der Welt ein, liegt aber beim Sozialprodukt je Erwerbstätigem (auch durch die Kosten deutscher Einheit maßgeblich reduzierend beeinflußt) lediglich auf dem 12. Platz der Welt. Dazu: Deutschland nimmt beim durch die UN ausgearbeiteten und veröffenlichten "Index für menschliche Entwicklung, der die Lebensqualität ausdrückt" lediglich den 14. Platz im Weltmaßstab ein. Die "Gesamtrechnung für das Gesundheitswesen" läßt erkennen, daß (für die DDR bzw. die neuen Länder und die alten Bundesländer zusammengerechnet) im Jahre 1970 rund 85 Milliarden Mark für die Befriedigung der "Gesundheitsbedürfnisse" zur Verfügung standen, 1990 rund 350 Milliarden, 1998 (geschätzt) etwa 570 Milliarden Mark. Im Jahre 2000/2001 könnten es durchaus 620 Milliarden Mark sein, was einem Prozentanteil von 45, 46 Prozent des "Sozialbudgets" von wahrscheinlich 1,3 bis 1,4 Billionen DM (fast 17.000 Mark je Kopf und Jahr) entsprechen wird. Und man muß damit rechnen, daß auch der Rentenfonds in allen seinen Rentenarten die gigantische Höhe von bis zu 600 Milliarden Mark erreichen kann. Sozial gerechter Reformbedarf überall!

Das alles und vieles andere mehr alarmiert natürlich die Gesundheits- und Sozialpolitiker völlig zu Recht. Zudem weiß man, daß die guten Zeiten von hohem Wachstum des verteilbaren Sozialproduktes längst vorbei sind, kaum noch etwas an Mehr zu verteilen sein wird. Nur eine gewisse Umverteilung bzw. "Umsteuerung", ein sparsameres Denken, Verhalten und Handeln kann das Gebot der Stunde sein.

Was wäre aber wie "umzubauen", was wäre zu "reformieren", in welchen Zeitetappen? Wer sollte und muß was und wie tragen und finanzieren? Auf die gigantische Herausforderung, die Erhaltung, Förderung, Wiederherstellung der Gesundheit möglichst bis zum Lebensende, die physische und psychische Leistungsfähigkeit aller Generationen, sozialen Gruppen bzw. Altersstufen, die Bekämpfung von Unfall, Invalidität, Krankheiten und vorzeitigem Tod, die Linderung von Leid und Not, kann es keine einfachen Antworten geben.

Ganz ohne Zweifel muß jedwede Sozialordnung immer konkret zeitlich bestimmt entscheiden, was sie sich für den "Bedürfniskomplex Gesundheit" leisten kann und letzten Endes auch will, welche Rang Gesundheit im weitesten Sinne einnimmt, einnehmen soll, welche Priorität das kostbarste, was der Mensch hat, die Gesundheit und das soziale Wohlbefinden, im Leben einer Gemeinschaft von Menschen einnimmt.

Eine Gesundheitsreform 2000, die sich diesen Namen verdienen und auf weitgehende Zustimmung aller Beteiligten und Betroffenen stoßen will, eignet sich nicht für Schlammschlachten, nicht für Parteiengezänk, nicht für Machtpoker um Wählerstimmen.

Niemand darf hier den "Anderen" erpressen oder in Geiselhaft nehmen. Niemand darf sich der Reform verweigern, auch wenn es in der Tat mehr um Verteilungskämpfe gehen dürfte als um das Interesse von Bürger/Patienten, die ohnehin an den Dichdochenkämpfen nicht beteiligt werden. Da müßte es eher zum Konsens kommen als zur Kultivierung der Dissensen.

Es geht bei der Gesundheitsreform 2000 um viel mehr als nur um Geld; zwar geht es auch um "Beitragsstabilität" und gerechte Belastung, aber eben nicht nur darum. Wenn "Wahlleistungslisten", die zur Zeit in vielen Wartezimmern aushängen, Patienten, die eigentlich ruhig schlafen sollten, ängstlich machen, kann das nicht "gesund" sein. Wenn sogenannte "Positivlisten" gegenüber "Negativlisten" quasi ausgrenzen, kann das nicht gut sein.

Wenn die "Glaubensfrage", ob ein "Globalbudget" das Allheilmittel für das medizinisch Notwendige, für Wirtschaftlichkeit und Effizienz (was kaum jemand genau bestimmen kann) ist oder nicht und dabei Ärzte und Zahnärzte Behandlungen auf das nächste Jahr verschieben müssen, dann hat das wenig mit Politikverantwortung zu tun.Eine echte Gesundheitsreform kann nicht einfach nur einer Partei bzw. einzelnen Lobbyistenverbänden überlassen werden. Nicht nur im Interesse jedes einzelnen Bürgers und Patienten, sondern auch für einen besseren und langfristigen Gesundheitszustand unseres Volkes, des großen Humankapitals. Die Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit und bei desolatem Gesundheitszustand des Volkes ist parktisch alles nichts! Das muß die Botschaft einer "Gesundheitsreform 2000" als Richtung in das nächste Jahrhundert sein.

 

Prof. Dr. Alfred Keck, 71, studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Halle und Berlin. Von 1968 bis 1989 lehrte er an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin.


 
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