© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Zwangsarbeit: Das vergessene Schicksal von Millionen verschleppten Deutschen nach 1945
Brecht das Schweigen!
Dieter Stein

Seit Wochen verhandelt die deutsche Regierung mit amerikanischen Anwälten über Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter, die zwischen 1939 und 1945 in Deutschland arbeiten mußten. Insgesamt sollen im Dritten Reich 7,6 Millionen Zwangsarbeiter und rund 600.000 KZ-Häftlinge beschäftigt gewesen sein.

Nachdem im Oktober 1997 eine polnische Zwangsarbeiterin vor einem Bonner Gericht erfolgreich gegen den deutschen Staat geklagt hatte, kamen weitere Prozesse ins Rollen. Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder sorgte im Namen des VW-Hauptaktionärs, des Landes Niedersachsen, dafür, daß wegen einer Klage gegen VW ein Entschädigungsfonds eingerichtet wurde. Erst danach traten amerikanische Top-Anwälte auf den Plan und setzten die Bundesregierung massiv unter Druck. Es kam zur Gründung der "Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", in der deutsche Unternehmen organisiert sind, die einen gemeinsamen Entschädigungsfonds für ausländische Zwangsarbeiter finanzieren wollen. Unter Leitung des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, Otto Graf Lambsdorff, werden die Verhandlungen in den nächsten Tagen wahrscheinlich zum Abschluß kommen. Das letzte Angebot der deutschen Seite beträgt acht Milliarden, die Anwälte der Zwangsarbeiter fordern bis zu 15 Milliarden Mark – man wird sich irgendwo in der Mitte treffen.

Nun wird niemand den noch lebenden Zwangsarbeitern Zahlungen mißgönnen, wenn sie nach Umwegen über Stiftungsfonds und nach Abzug der Anwalshonorare tatsächlich beim Empfänger eintreffen. Der Umgang mit dem Thema bleibt aber verlogen. Es sind gerissene Anwälte am Werk, die daraus ein Geschäft machen, deutsche Unternehmen unter Druck zu setzen, weil Millionen-Honorare winken.

Zu Recht bemerkte der Berliner Historiker Jörg Friedrich dieser Tage im "Deutschlandfunk": "Ob dies rechtlich triftig ist, spielt überhaupt keine Rolle. Es ist ja nicht der Rechtsweg beschritten, sondern eine zivile Repressalie angedroht – ein deutscher Warenboykott – abzuwenden durch ein Lösegeld. Ohne solch eine harte aber legitime Machtprobe würde in Deutschland gewiß nichts gezahlt! Dies erübrigte sich nämlich dadurch, daß die Reparationsgläubiger, die US-Regierung wie die übrigen Siegermächte, 1990 in dem de-facto-Friedensvertrag, dem Zwei-plus-Vier-Abkommen, keine neuen Reparationsforderungen anmeldeten. Deutschland leistete statt dessen eine Pauschalabfindung an Polen, die den Abschluß eines breiten, in der Geschichte singulären Opferentschädigungswerkes bilden sollte."

In einem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1963 war entschieden worden, nachträgliche Lohnforderungen ausländischer Zwangsarbeiter in die Reparationssumme einzubeziehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Bundesrepublik und DDR bereits 138 Milliarden Mark in Preisen von 1949 bezahlt – die Hälfte als Besatzungskosten.

Geschwiegen wird bis heute hingegen zu Deutschen, die nach 1945 deportiert und versklavt wurden. Es ist an der Zeit, daß das Schweigen über diese Menschen gebrochen wird. Das Schicksal der neben den kriegsgefangenen Männern vor allem in die Sowjetunion deportierten Frauen und Kinder ist eines der größten Tabuthemen, und doch sind viele deutsche Familien davon betroffen. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wurden 730.000 Deutsche in die UdSSR deportiert und unter bestialischen Bedingungen zur Zwangsarbeit gezwungen. Frauen wurden ihren Kindern entrissen und für immer ins Tausende Kilometer entfernte Sibiren verschleppt. Die "Todesquote" der deutschen Zwangsarbeiter lag bei 37 Prozent. Die Deutschen wurden eingesetzt zu Aufräumarbeiten, zur Instandsetzung von Industrien und in der Landwirtschaft. Wie das Interview mit einer der Betroffenen (siehe Seite 3) zeigt, wurden minderjährige Mädchen sogar beim Eisenbahnbau eingesetzt.

Darüber hinaus kamen nach 1945 alleine in 1.255 polnischen Sammel- und Zwangsarbeitslagern und 227 Gefängnissen bei einer "Todesquote" von 20 bis 50 Prozent tausende Deutsche ums Leben. Von den weder verschleppten noch geflüchteten Deutschen fanden in Polen 900.000 den Tod, davon mindestens 200.000 durch Mord und Totschlag.

Die deutschen Zwangsarbeiter haben keine Lobby, die für sie Milliarden erkämpft. Sie haben aber verdient, daß man sich ihres Schicksals erinnert.


 
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