© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Zwangsarbeiter: Käthe Hielscher über ihre Erlebnisse im sowjetisch besetzten Ostpreußen
"Da nutzte kein Schreien mehr"
Theo Mittrup

Frau Hielscher, was hat Sie dazu bewogen, Ihre schrecklichen Erlebnissen in Ostpreußen nach mehr als 50 Jahren zu veröffentlichen?

Hielscher: Der Zweck war, daß ich meinen Kindern, denen es sehr gut geht, klar machen wollte, was für eine Jugend ich gehabt habe. Die Aufzeichnungen habe ich auch nicht jetzt gemacht, sondern schon Anfang der siebziger Jahre. Dabei ist dies so tief in mir drin – das könnte ich noch heute niederschreiben.

Wie war Ihre Situation im Frühjahr 1945?

Hielscher: Von der ganzen Familie war nur ich noch bei meiner Mutter. Mein Vater war eingezogen, und meine beiden Schwestern waren nicht mehr in Ostpreußen. Zusammen mit meiner Tante sind wir nach der Ausbombung zu den Großeltern nach Königsberg gezogen. Da haben wir den Beschluß gefaßt, nicht wegzugehen, obwohl wir immer wieder getrieben wurden. Von der SA und der Wehrmacht wurden wir immer aufgefordert, Ostpreußen zu verlassen.

Wurden die Menschen nicht von der örtlichen Führung daran gehindert zu fliehen?

Hielscher: Das stimmt nicht. Nein, die waren ganz scharf darauf, daß wir Ostpreußen verlassen. Es gab noch einen freien Korridor zur Ostsee, wo unter anderem das Luxuschiff "Wilhelm Gustlof"lag, das schon mit Fliehenden überbelegt war und später auf der Fahrt von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Wir waren auch da, aber wir sind gar nicht rangekommen. Das war ein Mord und Totschlag da, auf dieses Schiff noch raufzukommen. Wir sind dann, weil die Großeltern schon über 80 Jahre alt waren, wieder zurück in unseren Luftschutzkeller in Königsberg gegangen.

In Königsberg erlebten Sie in einem Bunker der Wehrmacht auch das Ende des Krieges.

Hielscher: Mit einem Mal war Ruhe, es war kein Kanonendonner mehr zu hören. Da kam ein kleiner russischer Soldat mit einer Ziehharmonika, und der rief immer: "Jetzt russisch Soldat, russisch Soldat gut." Dann kamen zwei sowjetische Offiziere in den Bunker, sehr zackig und sehr freundlich, und haben "Guten Tag" gesagt zu den Leuten, aber es hat ja niemand erwidert, wir hatten ja alle Angst. Dann lagen wir uns aber doch alle erleichtert in den Armen. Die Horrorberichte waren also doch nur Propaganda der Deutschen. Einige Minuten danach kamen betrunkene Russen herein, und die holten sich dann die Deutschen immer an den Kragen, und immer die Frage: "Uhri ist? Uhri ist?" Dabei haben sie die Uhren und Ringe von den Armen gezogen, und haben sich gleich die Frauen geschnappt. Ich hatte das Glück, daß meine Großmutter mir vorher mit dem Staub des Bodens mein Gesicht vollgeschmiert hatte. So wurde ich in der ersten Phase nicht behelligt. Oben waren sowjetische Offiziere, die die Menschen sortierten. Wir wurden dann durch die Straßen getrieben und mußten dabei die vielen Bombenlöcher zuschütten.

Auch hier gerieten Sie in Gefahr, vergewaltigt zu werden.

Hielscher: Ich wurde immer wieder rausgegriffen. Meine Mutter hat dann aber für mich geschrien, und ich mit: "Diphtherie!" Ich mußte dann die Zunge ausstrecken, und da ich stundenlang nichts gegessen und getrunken hatte, sah es so aus, als hätte ich tatsächlich Diphtherie. Dann haben sie mich weggeschubst. Es kam auch vor, daß Soldaten ihre Pistolen zogen, sie mir aufs Herz richteten und sagten "Frau komm!" Aber meine Mutter hat mich nicht losgelassen.

Wie haben Sie die erste Nacht verbracht?

Hielscher: Wir sind in eine Halle getrieben worden. Dort hatte ich auch einen Schutz-engel, denn da war ein älterer Mann, der hat noch eine Decke gehabt, und die hat er mir über den Körper gelegt. Aus der Halle haben sie dann die Frauen herausgeholt. Das war grausam. Das war ein Geschrei! Einige sind wiedergekommen, die meisten sind nicht wiedergekommen. In der Nähe war ein Friedhof, und man erzählte sich, da würden die Russen immer die Frauen über die Gräber rüberwerfen und vergewaltigen, immer unzählige Male.

Wie ging es am nächsten Tag weiter?

Hielscher: Wir sind wieder getrieben worden und kamen zur Kommandantur. Da mußte ich mich ausziehen. Ich trug noch ein Turnhemd mit dem Hakenkreuz, das ja damals Pflicht war. Eine Russin sah das Hakenkreuz und schrie "Faschist! Faschist!". Ich wurde nun als Faschistin angesehen und von meiner Mutter getrennt. Mit einer anderen Gruppe marschierte ich wieder los. Ich hatte solch einen Durst, daß ich beinahe meine Sinne verlor. Ich habe geschrien "Durst! Durst!" und wollte schon das Pfützenwasser trinken, aber eine Frau hielt mich zurück und meinte, das wäre mein absoluter Tod. Abends schließlich kamen wir zu einem Lager, einem ehemaligen Konzentrationslager der Deutschen, wo wir hineingetrieben wurden.

Was erlebten Sie in diesem Lager?

Hielscher: Es war ein richtiges Todeslager. Von den zigtausenden von Menschen sind nur wenige übriggeblieben. Es standen keine Betten darin, wir haben auf dem Fußboden gelegen. Wir haben täglich nur zwei Ausgänge gehabt. Einmal morgens zum Abort. Dazu waren Gräben ausgehoben und Bretter darübergelegt worden. Die Massen von Menschen wurden darübergetrieben und jeder mußte seine Hose herunterlassen zum Abort. Wir wurden dann an einer Gulaschkanone vorbeigeführt. Jeder erhielt eine Kelle der heißen Brühe. Das war die erste warme Mahlzeit, die wir nach Tagen bekommen haben. Dann sind wir wieder zurück in unsere Baracke und haben uns wieder auf den Boden gelegt. Das ging so weiter, tage-, wochenlang, und viele , viele Menschen starben. Einige Männer hatten die Aufgabe, immer die Leichen in die Bombenlöcher reinzuwerfen. Nach 14 Tagen hatte ich das Gefühl, mein Ende ist da, das halte ich nicht durch. Erstmal gab es nichts richtiges zu essen, aber auch psychisch war ich am Ende. Doch dann half mir ein Russe, der mich da herausholte und in der Küche arbeiten ließ.

Welche Arbeiten mußten Sie nach dem Ende der Lagerzeit verrichten?

Hielscher: Alles. Ich habe trotzdem Dresche bezogen. Immer wieder wurde ich geschlagen, und wurde auch dreimal vergewaltigt. Wir Deutschen wurden wie Vieh behandelt, waren völlig rechtlos. Mein Selbstbewußtsein wurde damals als junger Mensch völlig zerstört.

Mußten Sie schwere körperliche Arbeit leisten?

Hielscher: Das war Schwerstarbeit! Wir haben eine Betonwaage gebaut, mit der Güterwaggons gewogen wurden. Ich mußte die Mischmaschine füllen und bedienen. Die schwerste Arbeit war das Auswechseln der Eisenbahnschienen und die Verbreiterung auf das russische Maß. Beim Transportieren dieser schweren Eisenbahnschienen sind wir auch alle zusammengebrochen. Da sind dann die Bewacher gekommen und haben auf uns eingeprügelt. Da nutzte kein Schreien mehr, und wer lag, der lag. Ach, das war furchtbar! Wir waren ja nur noch Skelette.

Die Verpflegung war also schlecht?

Hielscher: Wer nicht arbeitete, der kriegte auch nichts zu essen. Und wer gearbeitet hat, der hat 200 Gramm nasses Brot bekommen pro Tag. So sind die meisten Menschen gestorben, weil sie verhungert sind. Im Winter ist das Brot gefroren an uns gereicht worden. Wir mußten im Müll der Russen zwischen Kot nach Essensresten wie Kartoffelschalen suchen, um nicht zu verhungern. Erst im letzten Jahr, 1947, gab es eine Registratur der Deutschen. Ein halbes Jahr vor der Ausreise gab es auch etwas Lohn.

Haben Sie heute gesundheitliche Spätfolgen aus diesen Jahren?

Hielscher: Ich habe damals Probleme mit meiner Blase bekommen aufgrund der Kälte und der schlechten Bekleidung. Ich hatte immer Blasenschmerzen. Daraus folgte auch meine Nierenerkrankung. Ich bin mein ganzes Leben lang krank gewesen, vor allem durch dieses Liegen auf dem nackten Boden. Seit sechs Jahren bin ich jetzt schon an der Dialyse. Ich kann gar nicht mehr laufen. Mir geht es sehr schlecht. Ich glaube nicht, daß ich noch lange zu leben habe.

Haben Sie jemals Entschädigungszahlungen vom deutschen Staat bekommen?

Hielscher: Nein. Dann müßten ja alle Kriegsgefangenen eine Entschädigung bekommen.

Sie waren aber doch keine Kriegsgefangene, sondern Zivilistin, ein 15jähriges Mädchen.

Hielscher: Ja, das stimmt.

Fühlen Sie sich angesichts der derzeitigen Verhandlungen um Entschädigungszahlungen für NS-Zwangsarbeiter ungerecht behandelt?

Hielscher: Das ist mir ja auch so ergangen. Ich wurde ja auch festgehalten. Ich fühle mich denen gleichgestellt. Wenn die das verlangen, dann kann ich das ja auch verlangen. Doch meine Familienmitglieder, die dabeiwaren, die sind inzwischen verstorben.

Warum, glauben Sie, wird in Deutschland den deutschen Opfer des Krieges so wenig Beachtung geschenkt?

Hielscher: Gar keine, nicht? Da ist überhaupt nichts. Als ich aufgrund meiner Krankheit mit 40 Jahren Rentnerin wurde, bin ich nach West-Berlin gegangen und habe das alles vorgebracht, damit ich anerkannt werde. Doch ich konnte keine Zeugen vorbringen. Die Menschen, mit denen ich im Lager war, waren alle schon tot. Deshalb hat man das fallengelassen. Ich habe keine Entschädigung bekommen, nicht mal eine Anerkennung als Kriegsopfer.

 

Käthe Hielscher wurde 1929 im ostpreußischen Groß Warkau, einem Dorf zwischen Insterburg und Tilsit, geboren. 1945 geriet sie in Königsberg für drei Jahre in russische Gefangenschaft. Im März 1948 darf Käthe Hielscher mit ihren Angehörigen nach Frankfurt/Oder ausreisen. 1951 heiratete sie und siedelte später nach Potsdam über. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Be-triebswirtin. Heute lebt sie in Berlin. Im vergangenen Jahr erschienen ihre Erinnerungen "Als Ostpreußin in russischer Kriegsgefangenschaft" (Frieling, Berlin 1998).


 
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