© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Theater: Vor dem hundertsten Geburtstag von Gustaf Gründgens
Schrittweise Annäherung
Doris Neujahr

Mit Ernst Jünger und Leni Riefenstahl hat die deutsche Gesellschaft mittlerweile ihren Frieden geschlossen. Nun ist Gustaf Gründgens, der neben Heinrich George größte deutsche Schauspieler des Jahrhunderts, an der Reihe. Sein 100. Geburtstag am 22. Dezember ist Anlaß für Bücher und Ausstellungen, die sich seiner Person, seiner Kunst und seiner Wirkungen mit einer Neugierde und Offenheit nähern, die vor kurzem noch undenkbar waren.

Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin hat aus dem Nachlaß, den Gründgens’ Adoptivsohn Peter Gorski der Stiftung Preußischer Kulturbesitz überlassen hat, eine repräsentative Lebens- und Werkschau gestaltet. Unter der Glasplatte des Garderobentisches liegen Fotos ausnehmend schöner junger Schauspieler, darunter von Maximilian Schell: ein diskreter Hinweis auf Gründgens’ sexuelle Präferenz. Dieser Aspekt veranlaßte das Schwule Museum in Berlin-Kreuzberg zu einer eigenen, pointierten, jedoch keineswegs einseitigen Ausstellung. Ein Videofilm zeigt Gründgens in einigen Filmrollen sowie als Mephisto in seiner legendären Faust-Inszenierung von 1957/58 am Hamburger Schaupielhaus und vermittelt eine Vorstellung von der Suggestionskraft des Schauspielers.

Sein künstlerischer Rang ließ sich nie bestreiten. Die Verkörperungen des Mephisto, Hamlet, Tasso, Wallenstein, Ödipus, zuletzt Philipp II. kurz vor seinem Tod 1963 sprachen für sich selbst. Andererseits entzog sich die Tatsache, daß ausgerechnet im Dritten Reich durch Gründgens die deutsche Schauspielkunst auf einen Höhepunkt gelangt war, allen gängigen Deutungsmustern.

In ihrer Erklärungsnot kaprizierten die Kritiker sich auf seine Tätigkeit als Intendant des Schauspielhauses am Berliner Gendarmenmarkt, auf die Stellung als Preußischer Staatsrat und Protegé Hermann Görings. Gründgens erschien nachgerade als Symbol eines korrumpierten Künstlertums in der Diktatur. Seine Paraderolle als Mephisto, in der er eine hochartifiziell-dämonische Wirkung entfaltete, nährte zusätzliche Spekulationen über untergründige Affinitäten zwischen Gründgens und dem "theatralischen Regime" (Hans Daiber) der Nationalsozialisten.

Diese Lesart hatte Klaus Mann, dessen Schwester Erika kurzzeitig mit Gründgens verheiratet war, bereits im Roman "Mephisto" (1936) festgeschrieben. Die Hauptfigur "Hendrik Höfgen" wies dermaßen viele Parallelen zu Gründgens auf, daß die Leser gezwungen waren, das Buch als Schlüsselroman zu lesen. Er vermittelt das Bild eines Karrieristen, Opportunisten und Feiglings, der, statt 1933 anständigerweise in die Emigration zu gehen, um persönlicher Vorteile und Eitelkeiten willen sich in den Dienst eines Verbrechersystems stellt.

Die Diffamierungsabsicht des Kolportageromans ist offensichtlich. Sie verhindert aber nicht, daß Höfgen zwischen den Zeilen interessanter, ja sympathischer erscheint als alle anderen Figuren: Er ist ein talentierter, hart arbeitender Mann, der aus kleinen Verhältnissen kommt und dem Spott seiner großbürgerlichen, verwöhnten Frau ausgesetzt ist. Es spricht für sich, daß sich bis jetzt niemand daran gemacht hat, Klaus Manns Absichten und Ausgangspositionen einer generellen Analyse und Kritik zu unterziehen.

Nun hat Peter Michalzik mit einem grandiosen, blitzgescheiten Buch die "diskursive Machtausübung" Klaus Manns beendet. Am Anfang steht die nüchterne Einsicht, daß Gründgens sein überragendes Talent im Ausland schon wegen seiner mangelnden Fremdsprachenkenntnisse niemals zur Reife hätte bringen können. Dabei verliert Michalzik keinen Moment aus den Augen, daß die "Reinheit der Kunst", auf der Gründgens im Rückblick auf das Dritte Reich insistierte, teilweise Illusion war. Doch illusorisch war auch die "Reinheit des Gewissens", in deren Namen Klaus Mann seinen Angriff auf Gründgens startete.

Manns Vernichtungsschlag war der selbstgerechte Reflex eines vewöhnten Snobs, der sich noch im Exil auf die vielfältigen Verbindungen und das in beträchtlichen Teilen ins Ausland transferierte Vermögen seines berühmten Vaters, Thomas Mann, stützen konnte. Gründgens hingegen gelang seine künstlerische und soziale Emanzipation ausschließlich aus eigener Kraft. Man kann daher, über Michalzik hinausgehend, den "Mephisto"-Roman durchaus als Ausdruck des Minderwertigkeitskomplexes seines Autors deuten, der die mangelnde künstlerische Substanz seiner Bücher durch inhaltliche Provokationen zu kompensieren versuchte und dem es dennoch nie gelang, aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten. Gustaf Gründgens scheint die tragische Konstellation, in der Klaus Mann sich befand, verstanden und ihm sein Buch verziehen zu haben.

Um die Haltung Gründgens zum Dritten Reich zu verstehen, müssen auch unbequeme, verdrängte Tatsachen auf den Tisch. So bedeutete Hitlers Machtantritt und der Exodus vieler hervorragender Darsteller keinen absoluten künstlerischen Bruch auf den deutschen Bühnen, sondern das Bemühen um personelle und handwerkliche Kontinuität und Solidität war vielfach erfolgreich. Das Theater der Weimarer Republik hatte sich längst erschöpft. Viele Bühnen waren überschuldet oder in Konkurs gegangen. Weder Max Reinhardts braves, gutbürgerliches Theater noch die Nachklänge des Expressionismus und erst recht nicht die kommunistischen Revolutionsstücke eines Friedrich Wolf trafen mehr den Nerv des Publikums. Viele Künstler und Zuschauer waren also durchaus erwartungsvoll, inwieweit die 1933 von Goebbels vor Theaterleitern angekündigte "stählern-romantische" Bühnenkunst zur Innovation des Theaters führen würde.

Die Versuche eines genuin nationalsozialistischen Theaters versandeten übrigens schnell, weil ihre Plattheit kompromittierend wirkte. Die Kulturpolitik im Dritten Reich war differenziert und flexibel genug, herausragenden Künstlern, auf die man aus Prestigegründen Wert legte, Dinge zu gestatten oder nachzusehen, die quer zur NS-Politik und -Ideologie lagen. Gründgens, der Intendant des Preußischen Staatstheaters, war beispielsweise niemals Mitglied der NSDAP. Daß er ab 1933 einen diabolischen Machttraum ausgelebt hätte, ist Unfug. Fortsetzung von Seite 11: Gründgens

Er sah die Bühne als sein "Planquadrat" an, denn dort "wußte ich genau, wenn ich den Satz sage, geht hinten eine Türe auf, und eine Dame in einem grünen Kleid kommt herein – und nicht ein SS-Mann. ... Was dann bestimmend geworden ist für meine Art, Theater anzusehen: die Ordnung, die Exaktheit, das Ausschalten des Zufälligen." Durch die Konzentration auf das künstlerische Ethos versuchte Gründgens also, auf der Bühne im Schillerschen Sinne einen Raum der Freiheit zu schaffen, in dem – unbeeindruckt von der Außenwelt und die Regeln des Regimes gleichsam außer Kraft setzend – die Möglichkeiten des Menschlichen aufgegriffen und durchgespielt wurden.

Eine "Insel", die, wie Gründgens später behauptete, im "schärfsten Gegensatz gegen die faschistischen Theaterbestrebungen stand", konnte das Schauspielhaus jedoch spätestens von dem Moment an nicht mehr sein, in dem der Vorhang aufging und das Spiel öffentlich wurde. Dann war das berühmte Haus in die Selbstrepräsentation des Regimes eingebunden. Objektiv war es ein Schaufenster der Diktatur voller kostbarer Einzelstücke, die darüber hinwegtäuschen konnten und sollten, was hinter verschlossenen Türen sonst noch geschah. Ein zeitlich und örtlich begrenzter, genau kontrollierter Dispens von politischen und ideologischen Prämissen kann zudem durchaus im Kalkül der Herrschaftsstabilisierung liegen. Doch ist das keine Bestätigung für den geschichtsblinden Hochmut der Nachgeborenen! Der Theaterkonzeption von Gründgens lag ursprünglich vielleicht mehr Mut und Subversion zugrunde als dem heutigen Subventionstheater mit seinen hochdotierten und folgenlosen Protestattitüden!

Für Gründgens war die Bühne der einzige Ort, wo er leben konnte, und sein Künstlertum war eben nicht einfach Broterwerb und Karriere, sondern sein eigentliches Lebenselixier. Ohne diese Schlüsselerkenntnis erhält man keinen Zugang zum Phänomen Gustaf Gründgens. Daher ist die Formel "Großer Künstler, kleiner Mensch" absurd. Und sie wirkt noch absurder, wenn ihn mediokre Kritiker im Munde führen, deren einziger und unverdienter Vorzug es ist, in einer mediokren Zeit zu leben, die den Gedanken, es könnten Situationen mit lebensgefährlichen Konsequenzen eintreten, vollständig verdrängt und tabuisiert hat.

Gründgens hat demgegenüber unendlich viel ehrlicher, kritischer, demütiger über sich reflektiert, als er 1952 äußerte: "Ich sehe an meinem Schicksal, wie sehr wir alle überfordert sind, wie viel mehr das Leben von uns verlangt, als wir zu geben imstande waren."In der Aussöhnung der Deutschen mit einem ihrer größten Bühnenkünstler liegt daher auch die Möglichkeit, endlich das Erbarmen mit sich selbst zu erlernen.

 

Peter Michalzik: Gustaf Gründgens. Der Schauspieler und die Macht. Quadriga Verlag, Berlin 1999, 284 Seiten, zahlr. Abb., geb., 42 DM

Ausstellungen: "Gustaf Gründgens", Staatsbibliothek Berlin, Potsdamer Straße 33, und: "Tanz auf dem Vulkan", Schwules Museum Berlin, Mehringdamm 61


 
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