© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Theater: "La Bohéme" in Zwickau
Ein trauriges Ergebnis
Claudia Thieme

"Die Boheme ist die Vorstufe des Künstlerlebens, sie ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus", schrieb Henry Murger in seiner 1847/48 in zwangloser Folge veröffentlichten Artikelserie "Scienes de la vie de Boheme". Giacomo Puccinis aus diesem Stoff hervorgegangene Oper "La Bohéme" erlebte am Ende des vergangenen Jahrhunderts in Palermo einen durchschlagenden Bühnenerfolg und ist seitdem weltweit unzählige Male interpretiert worden.

In der vorvergangenen Woche gab es eine Premiere in Zwickau unter der Regie von Peter Wittig zu sehen. Wittigs künstlerische Mittel sind auch in dieser Inszenierung zu beobachten. Mutige Interpretationsweisen, klare Figurenzeichnung und der dramaturgisch unverzichtbare Umgang mit Farben prägen viele seiner Arbeiten.

Der Handlungsstrang ist bekannt. Schauplatz sind die Pariser Hinterhöfe und Mansarden, das Elend, die Schwindsucht und Prostitution begünstigt von den Zuständen einer faulen bürgerlichen Gesellschaft nach der Revolution von 1830 und eines in ihrem Schatten gedeihenden Künstlerproletariats in einer sozial zutiefst ungesunden Atmosphäre.

Hier allein gäbe es vielfache Ansatzmöglichkeiten einer Neuinterpretation der "Bohéme" am Ausgang des zweiten Jahrtausends mit seiner scheinbar bahnbrechenden gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit. Wittig beließ Personen und Handlungsorte jedoch trotz abstrahierter Bühne mehr oder weniger in ihrem historischen Kontext. Ihn interessierte der unberechenbare und vielleicht gerade deshalb kalkulierbare Faktor X dieser Geschichte – der Mensch.

Der Mensch in dem ihm zugeteilten Raum. Die Prüfungen, die ihn fordern, die Bürden, welche ihn zweifeln lassen, die Leidenschaften, die seine Sinne vernebeln. Das Künstlermillieu wurde von Puccini nicht zufällig gewählt. Der Zustand des Künstlers beschreibt den Zustand der Gesellschaft. Er ist die Avantgarde. Sein Kampf ist schwerer, seine Unbedingtheit vernichtender, seine Visionen selbstsüchtiger.

Die todkranke Mimi begegnet dem Dichter Rodolphe. Sie genießt seinen, wenn auch oberflächlichen, Optimismus und Frohmut. Ihre Hoffnung, mit diesem kraftvollen neuen Licht in ihrem kleinen Leben der nahen Begegnung mit dem Tod zu entweichen, scheitert. Rodolphe braucht seine Kraft ganz für sich selbst. Zu schwach ist das Gerüst unumstößlicher Lebensfreude, zu kurz der Atem für zukünftige Pläne.

Die Handlungsumstände des Stückes sind eine Wahrheit. Seine wirkliche Dramatik besteht jedoch in dieser gescheiterten Hoffnung, in dieser verlorenen Liebe. Ihr Schicksal erwächst aus den Umständen und führt wieder zu ihnen zurück. Der arme Poet Rodolphe, der sonst nichts besitzt, bekommt diese Liebe geschenkt und ist nicht imstande, deren Wandel aufzuhalten. Er wird gestört vom Alltag und dessen brutaler Wahrheit. Seine trotz zäher Anstrengung miserable wirtschaftliche Lage bewältigt er mit tödlicher Ignoranz und optimistischer Selbsttäuschung. Rien ne va plus. Ein trauriges Ergebnis. Auch 150 Jahre später.

Die Partie der Mimi wurde von Yvonne Reich (als Gast) mit wachsender Intensität gesungen. Weniger intensiv und mit einigen technischen Schwierigkeiten – Kai Konrad als Rodolphe. Insgesamt hatten Chor und Ensemble jedoch eine gute formale und musikalische Führung. Die Inszenierung konnte einen eigenen Rhythmus entwickeln, nicht zuletzt durch die klare, wenn auch manchmal etwas zu strenge Choreographie. Davon profitierten besonders die Abläufe in den großen Chorszenen und im Schlußbild.

Puccini soll in einem Brief an seinen Librettisten Ricordi am Ende seiner Arbeit zu "La Bohéme" geschrieben haben: "Im Augenblick wo dieses Mädchen, das mich so viel Mühe gekostet hat stirbt, würde ich wünschen, daß sie nicht gar so egoistisch aus der Welt geht, daß sie ein bißchen auch dessen gedenkt, der ihr so schmerzlich zugetan war ...".

Puccini klagte Teilnahme ein, ohne einen Ausweg zeigen zu können. Die Weichheit seiner Musik deckt die Härten des Zeitbildes nicht ab. Der Kontrast führt eher zu einer Steigerung beider Komponenten. Unter diesem Aspekt ist auch Wittigs Zwickauer Inszenierung zu verstehen. "Es ist ein herrliches und entsetzliches Leben, das seine Sieger und Märtyrer hat..."


 
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