© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Im Reich der Lüge
von Ernst Topitsch

In George Orwells berühmtem Roman "1984" der auch 2000 nichts an Aktualität eingebüßt hat, verwirrt und verleumdet die herrschende, sozialistisch firmierende Partei "jeden Grundsatz, für den die sozialistische Bewegung ursprünglich eintrat, und zwar im Namen des Sozialismus ... Das Ministerium für Frieden befaßt sich mit Krieg, das Ministerium für Wahrheit mit Lügen, das Ministerium für Liebe mit Folter, das Ministerium für Überfülle mit Hungertod". Dabei handelt es sich nicht um gewöhnliche Heuchelei, sondern um eine Erscheinung, die man als "strukturelle Verlogenheit" bezeichnen könnte.

Diese sprachliche Alchemie steht in engem Zusammenhang mit einem Grundelement der Politik, der Macht. So erheben etwa Gruppen, die erst nach der Macht streben, die Forderung nach Freiheit und Gleichheit als Waffe gegen die schon an der Macht Sitzenden, haben sie diese aber erobert, so werden jene Parolen bei gleichbleibendem Wortlaut den Bedürfnissen der nunmehr Mächtigen angepaßt und das heißt: in ihr Gegenteil verkehrt. Dabei soll der gleichbleibende Wortlaut die positiven Gefühlswerte bewahren, die mit der ursprünglichen Bedeutung jener Ausdrücke verbunden waren, eine Kontinuität der edlen Grundsätze vortäuschen und deren neue Funktion als Herrschaftsinstrument der neuen Machthaber verdecken. Wer sich aber erdreistet, diese Parolen in ihrem ursprünglichen, herrschaftskritischen Sinn zu verstehen, verfällt der Verfemung.

Dergleichen ist nicht nur von Orwell gesehen worden, sondern auch von anderen Autoren wie Milovan Djilas oder dem polnischen Soziologen Stanislaw Ossowski, dessen wichtiges Buch (deutsch: "Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein", Neuwied 1962) unter der kommunistischen Herrschaft entstanden ist. Schon Robert Michels hat in seiner klassischen "Soziologie des Parteiwesens" auch auf eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Erscheinung hingewiesen: "Jede neue Gesellschaftsschicht, die Signal zur Attacke auf die Vorrechte einer bereits im Besitze der ökonomischen wie politischen Macht befindlichen Klasse gibt, schreibt auf ihre Fahnen das Losungswort: ’Erlösung des Menschengeschlechts!’" Doch mit dieser Erlösung hat es seine Schwierigkeiten.

Es ist eine uralte Sehnsucht, dem eigenen kurzen Leben eine weit darüber hinausreichende, ja universale Bedeutung zuzuschreiben. So hat auch Karl Marx die gesamte Menschheitsgeschichte als gewaltige Show um sich selbst – den Messias – arrangiert, der als erleuchteter Theoretiker das Geheimnis der Geschichte entschleiert, so den Bann der Verblendung und "Entfremdung" – der Gottesferne – durchbricht und als siegreicher diktatorischer Führer der proletarischen Revolution sein Erlösungswerk vollendet. In der klassenlosen Gesellschaft – einer säkularisierten Spätform des "himmlischen Jerusalem" – sollte die Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen ersetzt sein. Doch hinter diesen Befreiungsversprechen stand wie bei den meisten messianischen Persönlichkeiten der Wille zu uneingeschränkter Macht. So war der Widerspruch zwischen herrschaftskritischer Ideologie und herrschaftsgieriger Motivation schon von Anfang an gegeben.

Während aber Marx nie eine entsprechende Machtposition erreichte, trat der Widerspruch im Sowjetsystem eklatant zutage. So heißt es etwa in der Zeitschrift Rotes Schwert, dem offziellen Organ der "Tscheka" (der Vorgängerorganisation von GPU, NKWD usw.), vom 18. August 1919: "Unser ist ein neuer Moralkodex. Unsere Humanität ist absolut; denn sie gründet sich auf das glorreiche Ideal der Beseitigung von Tyrannei und Unterdrückung. Uns ist alles erlaubt; denn wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert nicht zu Zwecken der Versklavung und Unterdrückung ziehen, sondern im Namen der Freiheit und der Befreiung von der Knechtschaft". Also Massenmord im Namen der neuen Moral und absoluten Humanität, Terror im Namen von Freiheit und Befreiung. Ein probates Mittel, um mit solchen Peinlichkeiten fertig zu werden, ist – abgesehen von offener Gewalt und brutaler Gehirnwäsche – die vielgerühmte Dialektik, jenes unüberprüfbare "höhere Wissen der Auserwählten", mit dem man alles und das Gegenteil von allem "beweisen" kann und im Laufe der Zeit auch "bewiesen" hat. Davon ist Orwell wohl zu seinen Ausführungen über "Neusprech" und "Doppeldenk" angeregt worden.

Dahinter steht aber noch das eigentliche Bollwerk, der allem bürgerlich-ideologischen Denken grundsätzlich überlegene kommunistische Wahrheitsbegriff: Wahr ist, was der Partei nützt, was die Partei befiehlt, und die Partei hat immer recht. So hat sich denn auch Stalin – noch über Hitler hinausgehend – als den größten Philosophen aller Zeiten beweihräuchern lassen. Freilich hat es selbst damals in der Sowjetunion mutige Wissenschaftler gegeben, die sich dieser Bevormundung widersetzten, und im Laufe der Zeit ist es zu einer fortschreitenden Erosion dieses Dogmatismus gekommen.

Demgegenüber scheint bei uns der kommunistische Wahrheitsbegriff samt entsprechenden Sprachregelungen eher an Virulenz zu gewinnen. Ein Beispiel dafür bietet die berühmt-berüchtigte "Wehrmachtsausstellung". Nun sind die dort gezeigten Bilder von Erschossenen und Gehängten gewiß ein schockierender Anblick. Doch sie stammen meist aus dem Partisanenkrieg, und nach dem damals geltenden Kriegsrecht und sogar nach der Rechtsauffassung des Nürnberger Tribunals ist zunächst der Partisan der Kriegsverbrecher. Nun ist gewiß das Partisanenwesen durch die törichte und brutale Besatzungspolitik erheblich gefördert worden, ja mitunter war die Partisanenbekämpfung bloßer Vorwand für reine Mordaktionen an Unschuldigen. Wenn es aber in den Beschriftungen der meisten einschlägigen Bilder heißt "Ermordete Widerstandskämpfer", dann legt dies den Schluß nahe, daß es sich um kriegsrechtlich legal hingerichtete Freischärler handelt.

Doch die Ausstellung schert sich um kein Kriegsrecht – der kommunistische Partisan ist von vornherein Held und heroisches Opfer, der Deutsche der Verbrecher – und ebensowenig um die Selbstverständlichkeit, daß derart weitreichende Beschuldigungen nur aufgrund einer gewissenhaften Quellenkritik erhoben werden können. Indessen zeigt die historische Forschung immer deutlicher, wieviel hier im Argen liegt, und was bisher zutage gekommen ist, könnte nur die Spitze eines Eisberges sein. Aber für politische Wahrheiten ist das alles nebensächlich, wenn nicht hinderlich. Entscheidend ist vielmehr die Macht, sie in der Öffentlichkeit durchzusetzen und womöglich unter Tabu zu stellen.

Ein anderes Produkt der sowjetischen Agitprop-"Historie" und psychologischen Kriegführung hat zwar im postkommunistischen Osten jeden Kredit verloren, wird aber bei uns noch immer hartnäckig verteidigt, nämlich die Legende vom wortbrüchigen und heimtückischen faschistischen Überfall auf die vertrauensvolle und friedliebende Sowjetunion. Nach heutigem Wissensstand hat Stalin eine Großoffensive mit Nachdruck vorbereitet. Nach Abschluß des Aufmarsches hätten die Angriffskräfte aufgrund ihrer Anordnung und Bemessung gute Aussichten gehabt, die Wehrmacht entscheidend zu schlagen und den Weg zum Atlantik zu öffnen. Die Anglo-Amerikaner hätten diesen Vorstoß nur durch eine sofortige Allianz mit Hitlerdeutschland parieren können. Eine solche war zwar politisch so gut wie ausgeschlossen, doch der mißtrauische Stalin argwöhnte, die "kapitalistischen" Mächte könnten sich zur entscheidenden Stunde doch noch gegen das "Vaterland der Werktätigen" zusammenfinden. So bereitete er – wie seine nunmehr bekannten Instruktionen für Molotow bei dessen Berlin-Besuch im November 1940 zeigen – von langer Hand ein Konzept vor, nach welchem die Wehrmacht den Erstschlag führen und die Sowjetunion als Opfer dastehen sollte. Damit konnte man in aller Welt und besonders in der öffentlichen Meinung der Anglo-Amerikaner um Sympathie und Solidarisierung werben und den Vorstoß der Roten Armee als Reaktion auf den faschistischen Überfall tarnen. Dieser raffinierte Schachzug psychologischer Kriegsführung gilt bei den meisten Repräsentanten der "Zeitgeschichte" als politische Wahrheit.

Doch die Technik der Produktion und Durchsetzung politischer Wahrheiten ist bei weitem nicht auf den Kommunismus beschränkt. Moral als Machtmittel wird besonders in Deutschland, aber auch anderswo von Leuten mißbräuchlich eingesetzt, die sich selbst als "kritische Intellektuelle" aufspielen, die aber Arnold Gehlen wenig ehrfurchtsvoll als "Mundwerksburschen" bezeichnet hat. Immerhin haben sie solche kulturpolitische Erfolge erzielt, daß Helmut Schelsky von einer "Priesterherrschaft der Intellektuellen" sprechen konnte, und tatsächlich treten in jenen Kreisen manche Verhaltensweisen auf, die als "pfäffisch" gelten können.

Überhaupt verbirgt sich hinter einer emanzipatorischen Rhetorik oft der massive Anspruch auf eine "Erziehungsdiktatur". Ein verbreiteter Konformitätsdruck macht sich geltend und erzeugt eine kulturelle Stickluft, welche – mit anderem politischen Vorzeichen – die dumpfe Atmosphäre der Nachkriegsrestauration womöglich noch übertrifft. Wer gegenüber dieser Bevormundung seine geistige Selbständigkeit und Integrität wahren will, hat oft erhebliche Schwierigkeiten mit der Veröffentlichung seiner Gedanken, denn der Konformitätsdruck richtet sich besonders gegen die Publikationsorgane. Wer sich erdreistet, politisch unerwünschte Auffassungen zu vertreten, läuft Gefahr, als "rechtslastig" bis "rechtsextrem" denunziert, ausgegrenzt und mundtot gemacht zu werden. Das gilt auch für den Liberalen, der das klassische Prinzip der Geistesfreiheit von den "linksliberalen" Gesinnungswarten einmahnt.

Doch die kürzliche eklatante Blamage der Wehrmachtsausstellung könnte weitreichende Folgen haben. Die massive und unverfrorene Weise, in der hier politische Wahrheiten produziert wurden, ist geeignet, auch bisher naiv gläubigen Betrachtern zum augenöffnenden Aha-Erlebnis zu werden. Die Unglaubwürdigkeit der Ausstellung beginnt schon mit dem zentralen Anspruch, den angeblichen "Mythos von der sauberen Wehrmacht" zu zerstören. Doch diesen hat es nie gegeben. Es war längst bekannt, daß neben SS, SD, Polizei und einheimischen Milizen auch Angehörige und Einheiten der Wehrmacht – freilich oft nur am Rande – an Massakern beteiligt waren und rassenideologische Vorstellungen dabei mit eine Rolle gespielt haben. Ebenso bekannt war, daß der Partisanenkrieg ein schmutziger Krieg außerhalb des Völkerrechtes ist, wobei gegen einen heimtückischen Feind auch mit übertriebener Härte vorgegangen wurde und zahlreiche unschuldige Opfer zu beklagen waren. Die Gegenseite hat nicht anders gehandelt.

Diese längst bekannten Vorgänge würden bei weitem nicht als Grundlage einer mit derart maßlosen Ansprüchen auftretenden Ausstellung ausreichen. Darum hat man zu den fragwürdigsten Tricks greifen müssen, um unter dem Deckmantel einer angeblichen "Aufklärung" eine Art Kollektivschuld der Wehrmacht zu konstruieren, damit aber in weiterer Folge eine solche des deutschen Volkes.

Es handelt sich also nicht um bloße Fahrlässigkeit im Umgang mit einem Material zum Großteil höchst fragwürdiger Herkunft. Vielmehr wird in berechneter Ausnützung der Unwissenheit eines oft auch bewußt in Unwissenheit gehaltenen Publikums unverfälschte Sowjetpropaganda verbreitet, und zwar bis in die Sprachregelungen hinein – etwa wenn kriegsrechtlich legal hingerichtete Partisanen als "ermordete Widerstandskämpfer" bezeichnet werden.

Aber die "kritischen Intellektuellen" haben gegen diese Irreführungen keinen Einspruch erhoben, sondern alles nach Kräften unterstützt und zu der Breitenwirkung der Ausstellung entscheidend beigetragen. Ein Großteil der veröffentlichten Meinung inszenierte ein publizistisches Trommelfeuer, vor dem ein Großteil des Establishments kläglich in die Knie ging. Politiker und Kirchenmänner jubelten die Propagandaveranstaltung hoch, Schüler wurden auf Weisung der Unterrichtsverwaltungen massenhaft durchgeschleust, und die meisten Koryphäen der "Zeitgeschichte" unterstützten sie aktiv oder unterließen jede Kritik. So sind weite Kreise zu Komplizen der Irreführung geworden und jetzt, wo das Ding hochgegangen ist, an einer Schadensbegrenzung interessiert. Das ist auch hinsichtlich der Historikerkommission zu beachten, die den Fall überprüfen soll.

Doch die Schadensbegrenzung könnte diesmal schwierig werden. Die so kaltschnäuzig Irregeführten – besonders die Jugend – könnten sich Gedanken nicht nur über die Ausstellung, sondern über das ganze System machen, in dem so etwas überhaupt möglich ist.

Jedenfalls aber sollte sich eine gründliche Skepsis gegen jene politischen Wahrheiten verbreiten, die mit dem Anspruch auf höchste Wahrhaftigkeit und höchste Moralität auftreten. Schon bei Orwell befaßt sich das Ministerium für Wahrheit mit Lügen.

 

Prof. Dr. Ernst Topitsch, 80, lehrte Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Stalins Krieg".


 
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