© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/97  28. März 1997

 
 
Sachsenspiegel: Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit
Pioniertat für das Recht
Von Paul Leonhard

Gute Sitten gab es im Mittelalter: "Jeder Schatz, der tiefer in die Erde vergraben ist, als ein Pflug geht, gehört in die Verfügungsgewalt des Königs", heißt es im Landrecht des Sachsenspiegels. Sein Verfasser, Eike von Repgow, hat auch folgendes notiert: "Eine Frau kann durch unkeuschen Lebenswandel ihre weibliche Ehre verletzen. Sie verliert aber dadurch weder Recht noch ihr Erbe." Festgehalten sind auch Urteile über das Markt- und Wegerecht, über die Mitgift und die Strafe für fahrlässige Tötung. Auch daß der Richter, die Boten, die ihm ein Urteil einer unteren Instanz zur Revision vorlegen, von diesem zu beköstigen sind, war Gesetz.

Unter dem Motto "Der Sachsenspiegel – Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit" widmet sich das Dresdner Landesmuseum für Archäologie bis zum 6. April in einer Sonderausstellung dieser Gesetzessammlung, die bis heute in die deutsche Rechtsprechung wirkt. In einer Zeit zunehmender Unzufriedenheit mit der Rechtssprechung und einer besonders in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion um sich greifenden Rechtsunsicherheit sei es wichtig, wieder an ein Werk zu erinnern, das als das berühmteste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters gilt, nennt Sachsens Landesarchäologin Judith Oexle den Anlaß für die Ausstellung. Es gebe heute viele Parallelen zu der Situation, in der Eike von Repgow in seinem Werk das Reichsrecht und das mündliche Gewohnheitsrecht des sächsischen Stammes festhielt. "Spiegel der Sachsen sei deshalb dies Buch genannt, weil mit ihm das Recht der Sachsen allgemein bekannt wird, wie durch einen Spiegel den Frauen das Antlitz, das sie erblicken," heißt es in der Vorrede zum Sachsenspiegel. Der aus dem zwischen Dessau und Köthen gelegenen Dorf Reppichau stammende Rechtsgelehrte von Repgow hat die Gesetzessammlung wahrscheinlich auf Anregung seines Lehnsherrn angelegt. Offenbar war damals die Rechtssicherheit gefährdet, da zuviele Ritter und Rechtskundige verstorben und die Angehörigen der jungen Generation mit den Rechtssätzen der Älteren nicht vertraut waren. Über den Autor des Sachsenspiegels ist nur wenig bekannt. In sechs Urkunden zwischen 1209 und 1233 tritt er im anhaltinischen Raum und in der Mark Meißen im Gebiet des heutigen Sachsen als Zeuge bei Rechtsvorgängen auf, 1218 zum Beispiel als "Heiko de Ripchowe" in Grimma oder 1224 als "Eico de Ripecowe" auf dem Landding der Grafschaft Eilenburg in Delitzsch. In seinem Werk wird deutlich, daß Repgow ein Mann von überdurchschnittlicher Bildung war. Er beherrschte das Lateinische und war politisch gut orientiert. Er zeigt sich vertraut mit Bibel und Kirchengeschichte sowie mit kirchlichem und weltlichem Recht. Sein Rechtsbuch gilt auch sprachlich als Pioniertat, denn er konnte sich an keinem Vorbild orientieren. Im Buch bittet von Repgow die Leser darum, "es ihm mitzuteilen", wenn er etwas vergessen habe.

Zwischen 1224 und 1231 entstanden, enthielt der Sachsenspiegel die im sächsischen Gebiet geltenden gewohnheitsrechtlichen Regeln des Staats-, Privat-, Straf- und Verfahrensrechts sowie des Lehnrechts und bildete die Vorlage für den 100 Jahre später geschriebenen Schwabenspiegel sowie den Deutschenspiegel. Ursprünglich in lateinischer Sprache verfaßt, wurde das Werk von Repgow schon bald ins "Dudische", in die Volkssprache seiner elbostfälischen Heimat übertragen. Bedeutung hatte diese Gesetzessammlung auch über das deutsche Reichsgebiet hinaus. In Thüringen und Anhalt blieb der Sachsenspiegel bis 1900 gültig.

Seit dem späten 13. Jahrhundert entstanden prächtig ausgemalte Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. In ihnen werden die halbseitigen Textspalten durchlaufend von farbigen Bildszenen begleitet. Diese sind nicht nur Schmuck, sondern beziehen sich konkret auf bestimmte Rechtsregelungen im Text. Damit erleichtern sie die praktische Umsetzung der abstrakten Gesetzestexte. Sie regeln auch die Verhaltensweisen vor Gericht und dienen als Suchhilfe für den Benutzer des Rechtsbuches. Die Miniaturen zeigen Menschen, Orte, Situationen und Gegenstände. Sie spielen auf politische und soziale Probleme an und illustrieren den Lebensalltag im Mittelalter. Das Museum hat dabei in Sachsen ausgegrabene archäologische Bodenfunde ausgestellt, die auf den Bildszenen dargestellt sind: Trink - und Eßgefäße aus Keramik, Glas und Holz, Pfeil und Bogen, Musikinstrumente. Auch das Schwert eines Scharfrichters, Handfesseln und ein Beil, mit dem einst Hände abgehackt wurden, sind zu sehen. Das Prachtstück der Ausstellung ist aber der originale Oldenburger Sachsenspiegel. Angefertigt wurde er 1336 von dem Benediktinermönch Hinrik Gloye-sten im Kloster Rastede nördlich von Oldenburg. Diese Bilderhandschrift ist eine von mindestens sieben. Vier sind erhalten geblieben: der Heidelberger, der Wolfenbütteler, der Oldenburger und der Dresdner Codex. Vom Dresdner Sachsenspiegel, dem prächtigsten von allen, können dagegen nur schwarz-weiß Reproduktionen und sechs Farbkopien gezeigt werden, die Anfang des Jahrhunderts entstanden sind. Das Original lagerte am 13. Februar 1945, der Todesnacht Dresdens, im Keller des Japanischen Palais und wurde durch eindringendes Wasser schwer beschädigt. Gegenwärtig befindet es sich zur Restaurierung in Wolfenbüttel.


 
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