© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/97  28. März 1997

 
 
Geistige Freiheit und Demokratie: Günter Rohrmoser über die Krise des Liberalismus
"Desaströse Konsequenz"
Volltext des Interviews mit Günter Rohrmoser
geführt von Hartmut Jericke

Mit Ihnen hat die Russische Akademie der Wissenschaften zum ersten Mal einen konservativ denkenden deutschen Philosophen nach Moskau eingeladen, um mit Ihnen vor Ort über die geistig-politische Lage Rußlands zu diskutieren. In Deutschland hat es, meiner Kenntnis nach, eine analoge Diskussion über unsere geistig-politische Lage bisher nicht gegeben. Gibt es in Rußland mehr geistige Freiheit als in Deutschland?

Rohrmoser: Der Besuch in Moskau hat mich sehr tief beeindruckt. Anlaß für diese Einladung war die Präsentation meines Buches "Der Ernstfall", das inzwischen ins Russische übersetzt wurde und von dem soeben eine zweite Auflage erschienen ist. Unter der Leitung des Direktors der Philosophischen Abteilung, Professor Stjopin, hat eine mehrstündige Diskussion mit 20 Philosophen der Russischen Akademie der Wissenschaft, dem Sicherheitsberater von Jelzin und dem Chef des Gorbatschow-Institutes stattgefunden. Dieses Gespräch zeichnete sich durch einen ungewöhnlichen Grad der Offenheit und Unvoreingenommenheit aus, mit der alle Teilnehmer die geistigen Beziehungen der beiden Länder in der Gegenwart wie in der Vergangenheit angesprochen und die sie berührenden Fragen in einem Geist der Freundschaft diskutiert haben. Es scheint mir nur schwer vorstellbar, daß eine vergleichbare Diskussion dieser Art in Deutschland stattfinden könnte. Es gab dort weder "political correctness", noch etwa Fremdzensur. Es gab aber auch keine Selbstzensur, sondern es ging auch für die russischen Teilnehmer im wesentlichen um die Frage: Wie ist die Katastrophe eines siebzig Jahre andauernden Kommunismus möglich gewesen? Wie hängt sie mit der russischen Mentalität, aber auch mit dem Gang der Geschichte der Moderne zusammen? Wie konnte ein vergleichbares Phänomen in Deutschland möglich sein? Wie hat es sich auf das Verhältnis dieser beiden Völker zueinander ausgewirkt und welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

Das Erstaunliche war, daß die russischen Teilnehmer überhaupt keine Hemmungen hatten, den im Grund atheistischen totalitären Charakter beider Bewegungen nicht nur als vergleichbar, sondern auch als identisch zu empfinden und auch den quasi faschistischen Charakter des sowjetischen Regimes einzusehen. Man hat anerkannt, daß auch dem Nationalsozialismus nicht jede Form des Sozialismus abgesprochen werden kann, so sehr man sich auch um eine Differenzierung bemühen muß. Dabei wurde deutlich, daß sich in Rußland durchaus eine dem Niedergang der Weimarer Republik analoge Situation entwickeln könnte, daß der Versuch, eine liberale Demokratie zu etablieren, wohl als gescheitert angesehen werden muß, ja daß es Formen der Verelendung und der inneren Auflösung der Gesellschaft gibt, die es als völlig ausgeschlossen erscheinen lassen, sich die Vorstellungen des westlichen Liberalismus zu eigen zu machen. Morgen wird es auf der einen Seite des politischen Spektrums in Rußland eine wirkmächtige nationalkonservative Kraft geben, sei es nun unter der Führung von General Lebed oder der des Moskauer Bürgermeisters Luschkov. Auf der anderen Seite werden sich die alten, die neototalitären linken Elemente zusammenfinden. Der Ausgang der zu erwartenden Konfrontation ist völlig offen.

Erstaunlich war, daß die Russen nach wie vor mit unvermindertem Interesse nicht nur die Entwicklung in Deutschland beobachten, sondern sich auch entscheidende Anregungen, Anstöße geistiger und philosophischer Art aus Deutschland und der deutschen philosophischen Tradition versprechen. Denn was Rußland braucht, ist eine neue Philosophie. Die Bereitschaft, diese Philosophie im Gespräch auch mit Vertretern der deutschen Philosophie zu entwickeln, war völlig unverkennbar. Ich bin froh, daß ich an der Ausgestaltung der neuen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland zu einem kleinen Teil beitragen konnte. Vielleicht ist noch als Kuriosität anzumerken, daß inzwischen auch die Chinesen beschlossen haben, den "Ernstfall" ins Chinesische zu übersetzen, verbunden mit einer Einladung für Ende des Jahres an die Pekinger Akademie der Wissenschaft. Ich erwähne das, weil vielleicht an diesem Beispiel der Kontrast zu dem bei uns herrschenden geistigen Klima am deutlichsten wird.

Woran würden Sie diesen Kontrast besonders festmachen?

Rohrmoser: Sie wissen, daß so gut wie jeder, der bspw. irgendwann einmal in der "Jungen Freiheit" gestanden hat, durch sogenannte antifaschistische Organisationen steckbriefartig verfolgt wird, um diesen als faschistisch entlarvten Vertreter aus Wissenschaft oder Politik dann daran zu hindern, in Deutschland das Wort zu ergreifen. Dieses Phänomen steht in einem sehr bedenkenswerten Kontrast dazu, daß heute sowohl Rußland wie auch China offenbar keinerlei Hemmungen verspüren, sich mit einem solchen von antifaschistischen Gruppen als faschistisch verorteten Menschen auseinandersetzen, sondern daß sie sich daraus vielmehr Anstöße und Anregungen für ihre eigene geistige Entwicklung und geistige Rekonstruktion versprechen.

Ich war übrigens der erste als konservativ apostrophierte Philosoph in dieser Akademie. Vor mir eingeladen waren der führende französische Religionsphilosoph Paul Riqueur und Jürgen Habermas. Allerdings hat mich sehr beeindruckt, daß die Russen offenbar mit der bei uns außerordentlich prosperierenden linken Theorie nicht das mindeste anfangen können. Die Anregung, ihre Probleme durch den herrschaftsfreien Diskurs zu lösen, haben sie wohl als sehr liberal empfunden, aber doch als völlig unpolitisch oder als etwas, was mit ihrer realen Situation nichts zu tun hat.

Das geistige Klima in der Bundesrepublik läßt offensichtlich keinen Raum für eine ähnliche Veranstaltung wie in Moskau. Worauf führen Sie denn die geistige Erstarrung in der Bundesrepublik zurück?

Rohrmoser: Es ist die Frage, ob man überhaupt von einem geistigen Klima in der Bundesrepublik reden kann. Dies setzt ja ein gewisses geistiges Leben voraus. Davon aber kann man auch bei genauestem Hinsehen nur wenig entdecken. Worunter unser Land leidet, ist ein Ausmaß der geistigen Erschöpfung, auch der geistigen Verödung, so daß kaum noch eine politische Auseinandersetzung geschweige denn eine Ideenkonkurrenz stattfindet. Es herrscht eine eigentümliche resignative, depressive Dumpfheit und Provinzialität, die sich ausbreitet. Das läßt bereits für die nähere Zukunft nichts Gutes erwarten.

Liegt dies vielleicht auch an der von Helmut Kohl stark geprägten Politik?

Noch gilt unser verehrter Bundeskanzler als ein in der ganzen Welt hochgeachteter und bedeutender Staatsmann. Ich fürchte nur, daß, wenn eines Tages die Bilanz der Regierungszeit Helmut Kohls in Deutschland gezogen wird, das Ergebnis anders aussehen wird als er selbst es sich wohl bislang - und sogar mit einem gewissen Recht - erhofft haben mag.

Ich glaube, wenn wir schon das Wort vom "geistigen Klima" gebrauchen, dann setzt dies die wirkliche Anerkennung des liberalen Grundrechtes und Grundprinzips auf eine uneingeschränkte geistige Freiheit voraus, sowie das Recht eines jeden, das, was er denkt, auch ohne Schaden für Ansehen, Leben und Eigentum in der Öffentlichkeit äußern zu dürfen. Das ist der Kern einer liberalen Ordnung und einer liberalen Philosophie. Und daran gemessen wird man durchaus im Ernst die Frage stellen dürfen, ob nicht wenigstens in diesem Punkte Rußland heute ein liberaleres und geistig freieres Land, wenigstens was den Austausch der Intellektuellen untereinander angeht, ist als Deutschland.

Bei uns beobachten wir, daß sich eine gewisse Form hyperlibertärer Liberalität breit macht und dabei bestimmte, nur locker oder gar nicht mit den großen Traditionen liberaler Philosophie in Zusammenhang stehende Sprachregelungen vorgegeben werden. Diese können natürlich nicht so durchgesetzt werden, wie das in totalitären Systemen üblich ist; aber man hat wirksame Mechanismen erfunden - anonym und niemandem mehr zuzuordnen -, die manche doch davon sprechen lassen, daß wir dabei sind, eine Art quasitotalitären Liberalismus zu etablieren. Dieser, ich wiederhole, hat mit den wirklichen und wahren Ausprägungen liberaler philosophischer Tradition gar nichts zu tun. Was wir erleben, ist die Tatsache, daß nicht einmal eine offene Diskussion über die wirkliche Lage in Deutschland möglich ist. Ganz im

Unterschied zu England oder Frankreich gibt es keine wirkliche offene und öffentliche Auseinandersetzung über den zukünftigen Weg in und mit Europa. Das aber kann auf die Dauer für die Demokratie nur ruinöse und desaströse Konsequenzen haben. Ich habe nicht zuletzt auch aus diesem Grunde dem Ansinnen zugestimmt, der "Jungen Freiheit" nach vielen Jahren wieder ein Interview zu geben. Denn derjenige, der das tut, der kämpft heute für die geistige Freiheit in Deutschland und damit für die Demokratie.

Nun sind wir mitten beim "Ernstfall". In diesem Buch haben Sie sich vor kurzem explizit mit der Krise des Liberalismus in den westlichen Demokratien und insbesondere in der Bundesrepublik breit auseinandergesetzt. Sind wir eigentlich deshalb mit dem "Ernstfall" konfrontiert, weil die seit 14 Jahren versprochene geistig-moralische Wende nicht eingetreten ist und, falls Sie dies bejahen sollten, wie könnte denn heute die geistig-moralische Wende aussehen?

Rohrmoser: Wenn die von der CDU mehrheitlich geführte Regierung seit 1982 ihr Programm oder auch nur ein Teil jenes Programmes verwirklicht hätte, um dessen willen sie damals gewählt worden ist, stünden wir heute völlig anders da. Von geringfügigen finanzpolitischen Korrekturen abgesehen, ist sie, was die Verwirklichung des Versprechens einer geistigen Wende sehr kommoder Art und einer gesellschaftspolitischen Neuorientierung des Landes anbelangt, fast alles schuldig geblieben. Die CDU hat weder 1982 die Gelegenheit zu einem Wandel ergriffen, noch hat sie die zweite noch größere Chance, die ihr die Geschichte 1989 in die Hand gespielt hat, nicht nur nicht genutzt, sondern möglicherweise verspielt. Seither haben sich die inneren geistigen und kulturellen Erosionsprozesse eher dramatisch beschleunigt als daß das große geschichtliche Geschenk der Wiedervereinigung genutzt worden wäre, um nachzuholen, was man bereits 1982 versprochen hatte. Der Begriff der geistigen Wende konnte 1982 noch als eine Überbauvokabel verstanden werden. Das Neue und wesentlich andere unserer gegenwärtigen Situation besteht aber darin, daß aus der Vokabel und dem Slogan des Überbaus inzwischen ein elementarer Überlebensimperativ geworden ist. Es ist ganz unverkennbar, daß weit über die CDU hinaus, vielleicht sogar noch eher außerhalb der CDU als in ihr, das Bewußtsein von der Notwendigkeit einer geistigen Wende wächst. Bleibt diese jedoch weiter aus, dann besteht die Möglichkeit der Wiederkehr eines wie auch immer gearteten Faschismus.

Inwiefern?

Rohrmoser: Die Geschichte hat gelehrt, was zusammenkommen muß, damit sich faschistische oder quasi faschistische Lösungen in einer Gesellschaft durchsetzen können: Das eine ist der ökonomisch-soziale Zusammenbruch, vor allen Dingen der mittleren Schichten einer Gesellschaft, das zweite ist die kulturelle Dekadenz.

Wir haben seit langer Zeit unübersehbare Symptome einer kulturellen Dekadenz. Neu hinzugekommen ist, daß nun auch der Mittelstand unruhig wird. Zwei Drittel aller mittelständischen Betriebe in Deutschland kämpfen inzwischen um's nackte Überleben. Uns droht die Situation, gegen die ich, wenn ich das etwas emphatisch sagen darf, seit 10 Jahren ankämpfe. Darum glaube ich auch, daß ich antifaschistischer bin als alle diejenigen, welche sich so nennen. Denn Antifaschismus bedeutet nicht zuletzt, die Ursachen zu erkennen, aus denen faschistische Entwicklungen hervorgehen. Eine umfassende strukturelle Reform ist ein absoluter Überlebensimperativ geworden. Ohne Bewußtseinsänderung, ohne Erneuerung von vielleicht kulturrevolutionärer Qualität werden wir die Anpassungen an eine ganz neue Phase globaler und anderer geschichtlicher Entwicklungen nicht erreichen.

Ist das Entstehen einer "Neuen Rechten" in Deutschland auch ein Symptom der gegenwärtig zu beobachtenden Krise des Liberalismus?

Rohrmoser: Ich will offenlassen, ob es diese Rechte wirklich in dem Umfang gibt und ob die befürchteten Gefahren tatsächlich von dieser Rechten ausgehen, wie immer wieder behauptet wird. Aber es ist ohne Zweifel ein Phänomen, das man vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung sehen muß, in der sich der Liberalismus übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Ländern befindet. Die Krise des Liberalismus gibt es in Frankreich und in Italien, sie gibt es, wenn auch in ganz anderen Erscheinungsformen, in England, es gibt sie in Österreich. Die Krise des Liberalismus ist also ein erneutes europäisches Phänomen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, ob und wie die Rechte angesichts der Chancen, die sie in dieser Krise hat und in Zukunft noch mehr haben wird, aus der großen geschichtlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts lernt. Um es konkret anzusprechen: Es wird heute als rechts derjenige bezeichnet, der sich ideologisch auf Carl Schmitt beruft, der von Homogenität des Volkes spricht und der von Freund-Feind-Kategorien redet. Diese, wie ich finde, oberflächliche geistige Zuordnung der Rechten zu bestimmten Strömungen der Weimarer Republik, vor allen Dingen zu Carl Schmitt, zeigt aber, daß die Rechte durch ihre Sprache und durch ihre Programme zu erkennen gibt, daß sie ihre geschichtliche Lektion nicht so gelernt hat, wie sie das in ihrem eigenen Interesse wünschen müßte. Es fehlt, auch bei der Jungen Freiheit, die geistige Grundlagenarbeit, deren es bedürfte, um in der intellektuellen Auseinandersetzung unserer Republik, die es sicher morgen wieder geben wird, eine Rolle zu spielen.

Was heißt in diesem Zusammenhang Grundlagenarbeit?

Rohrmoser: Das sind vor allem zwei Punkte: Die neue deutsche Rechte muß ihr Verhältnis zum Liberalismus philosophisch grundsätzlich klären. Sie muß genauso ihr Verhältnis zur Religion - und das heißt konkret zum Christentum - überprüfen. Wenn die Rechte der Weimarer Republik letztlich das Ende genommen hat, welches wir 1945 zur Kenntnis nehmen mußten, dann hängt dies auch mit diesbezüglichen schweren Fehlentwicklungen, Defiziten und mangelndem Nachdenken zusammen. Dies war insofern katastrophal, weil die dann 1933 aus diesen rechten Entwicklungen an die Macht Gelangten überhaupt nicht mehr nachgedacht haben und des Nachdenkens auch gar nicht fähig waren. Noch schlimmer als das Falsch-Denken ist das Nicht-Denken. Es gehört zu einer liberalen Demokratie auch das Recht, falsch zu denken. Wer das falsche Denken verbieten will, der wird morgen das Denken überhaupt unmöglich machen. Die neuen Gefährdungen, die von einer neuen Rechten ausgehen könnten, liegen deshalb nicht in den kargen und spärlichen Argumenten und Ideen, die sie anzubieten hat, sondern darin, daß auch die neue deutsche Rechte in einer Weise der Dumpfheit enden könnte, aus der dann in der Tat nur Übles hervorgehen kann.

Haben wir heute aber nicht eine geradezu ideale Lage für das Aufkommen einer demokratischen Rechtspartei in Deutschland?

Rohrmoser: An sich gehört zu einer normalen Demokratie auch, daß die Legitimität einer rechtsdemokratischen Partei selbstverständlich ist und anerkannt wird. Das gibt es in allen anderen Demokratien, warum sollte es dies nach 50 Jahren nicht auch bei uns geben?

Aber das ist nicht das Problem. Unser Problem ist das Vakuum, das rechts von der Mitte entstanden ist, also in dem Bereich, der früher von der CDU und noch stärker und ausgeprägter von der CSU abgedeckt worden ist, dem die Bundesrepbulik letztlich jedoch ihre Prosperität und Stabilität zu verdanken hat. Der Ausfall der rechten Mitte könnte morgen für unsere Demokratie katastrophale Auswirkungen haben. Denn wenn die CDU weder willens oder vielleicht auch gar nicht mehr in der Lage ist, auch dieses Spektrum unserer Gesellschaft mit abzudecken, die dort vorhandenen Kräfte politisch zu repräsentieren und deren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen, dann wird sie vielleicht schon morgen eine Koalition mit den Grünen zustande bringen. Sie könnte damit endgültig den Weg für eine wirkliche Rechtspartei freimachen, die dann dazu beitragen könnte, unsere Demokratie zu entstabilisieren.

Wie müßte sich demgegenüber eine systemimmanente Rechtspartei gegenüber dem Liberalismus der großen Parteien abgrenzen, aber auch gegenüber einem klassischen Nationalismus oder Chauvinismus?

Rohrmoser: Ihre Frage läuft im Grunde genommen auf die Abgrenzung von rechts und konservativ hinaus. In Deutschland findet eine faktische Gleichsetzung und die daraus resultierende Gleichbehandlung von konservativ mit rechts bis faschistisch statt. Jemand, der eine normale, patriotische Regung zum Ausdruck bringt, gerät damit bereits unter Faschismusverdacht. Schon wenn er einige der konservativen Topoi, die in anderen Ländern als völlig normal gelten, vielleicht etwas selbstbewußt artikuliert, dann wird mit der Faschismuskeule sofort auf ihn eingeschlagen. Wenn man nach den Gründen hierfür sucht, wird man sie in der Art und Weise finden, wie wir geglaubt haben, die Vergangenheit bewältigen zu können.

Die Grundthese lautet dabei, daß die Konservativen der Herrschaft des Nationalsozialismus und damit dem Untergang Deutschlands den Weg bereitet haben. Um eine Wiederkehr gleich schrecklicher Dinge zu verhindern, müßte daher jede nicht nur allgemein, sondern auch politisch gemeinte Regung oder Artikulation konservativen Gedankens im Keime erstickt werden.

Ich will jetzt nicht auf die komplizierten Fragen eingehen, ob und ggf. welchen Anteil die Konservativen der Weimarer Republik an der Genese des nationalsozialistischen Verhängnisses hatten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Konservativen der zwanziger Jahre in diesem Sinne überhaupt alle konservativ gewesen sind. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem national-revolutionären Gedanken eines Ernst Jünger damals und der Position, die etwa Carl Schmitt vertreten hat. Carl Schmitt wird heute ganz selbstverständlich den konservativen Revolutionären zugerechnet, was mir völlig unbegründet und unberechtigt zu sein scheint. Seine Position ist vielmehr eine letztlich aus christlich konservativer Herkunft entwickelte Form des Konservativismus. Schmitt ist politisch ein Etatist gewesen und bis 1933 immer um die Rettung von Weimar bemüht gewesen. Gerade am Beispiel Carl Schmitts läßt sich aber auch zeigen, daß unsere gegenwärtige Lage eine andere ist und daß man die Modelle der Weimarer Republik nicht auf unsere Situation übertragen kann.

Frage: Was heißt das konkret?

Rohrmoser: Zunächst muß man feststellen, daß der Konservativismus als Ideologie dem Verschleiß genauso unterworfen ist wie etwa der Sozialismus oder der Nationalismus. Alle auf dem Boden der Französischen Revolution unter Zugrundelegung der Aufklärungsphilosophie entstandenen ideologischen Formationen, wie auch die Reaktionen auf sie, zu denen in seiner letzten historischen greifbaren Erscheinungsform auch der Konservativismus der Weimarer Republik gehört, halte ich für geschichtlich erledigt. D.h. wenn wir Konservativismus heute neu bestimmen wollen, müssen wir auch das Verhältnis zwischen konservativ und rechts neu bestimmen. In der gegenwärtigen Diskussion bedeutet rechts nichts anderes als jede Position, die im Kern aus den Traditionen des Nationalismus entwickelt an dem Gedanken der nationalen Selbstbehauptung, der nationalen Selbständigkeit und an einem gewissen unverzichtbaren Maß an Souveränität festhält.

Diese Position wird durch die Globalisierung, durch die Internationalisierung der Politik und durch die Maastricht-Europa-Entwicklung in Zukunft noch an Stärke gewinnen. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß dieser Gedanke nationaler Eigenständigkeit und Selbstbehauptung sowie relativer Souveränität erledigt sei. Nein, er kehrt in gewisser Weise wieder und wird morgen die Debatte in Deutschland mehr bestimmen als die meisten es sich vorstellen können.

Aber viel tiefgreifender und schwieriger ist es, unter den Bedingungen der Gegenwart zu denken, was jetzt eigentlich konservativ ist und welche Herausforderungen es sind, denen sich der Konservative stellen muß. Das erste und entscheidende scheint mir dabei zu sein, daß wir wieder lernen müssen, geschichtlich zu denken. Das Ende der Großutopien zwingt uns zur Besinnung auf die Geschichte. Wenn wir überhaupt noch eine geistige Substanz für die Zukunft in Anspruch nehmen wollen, wird diese aus der Reflexion und der Besinnung auf die Geschichte und das geschichtliche Erbe zu gewinnen sein. Nicht geschichtlich zu denken und auch nicht die Geschichte als eine gegenwärtige bedeutsame Kraft wieder in Rechnung zu stellen, bedeutet den Nihilismus, der mit seinen unangenehmsten Folgen bereits unter uns zu grassieren beginnt.

Das zweite ist, daß der Konservativismus ein unverzichtbares Gegengewicht zu einem Liberalismus ist, der ins abstrakt Allgemeine oder auch Universale umkippt und der kulturell libertär einen Individualismus kultiviert, der, wie Nietzsche richtig vorhergesehen hat, zur atomistischen Revolution, d.h. zur Auflösung der Gesellschaft führt. Der Liberalismus selber ist demzufolge nur handlungs- und überlebensfähig, wenn er als seinen Gegenhalt und Korrelat einen Konservativismus hat. Ein Liberalismus, der diesen Gegenhalt nicht hat, läuft ins Leere. Er beraubt sich damit seiner eigenen Möglichkeit, seine Existenznotwendigkeit nachzuweisen. Die außer Gleichgewicht geratene Entwicklung in Deutschland hängt mit dem Ausfall eines solchen Konservativismus zusammen, der nicht Feind des Liberalismus ist, aber einen ausgleichenden, relativierenden und stabilisierenden Gegenhalt zu einem ins Hypertrophe drängenden Liberalismus spielt.

Darüber hinaus stellt der Konservativismus heute eine Reflexion auf die elementaren Grundlagen dar, ohne die es eine Gesellschaft nicht geben kann. Ich will damit sagen, daß die Postmoderne den Begriff der Einheit, der als totalitär verdächtigt sozusagen aus dem politischen Vokabular ausgeschieden worden ist, wieder so konkret denken muß, daß sie in der Lage ist zu erkennen, daß Einheit die Bedingung der Möglichkeit für die Vielfalt ist. Denke ich die Vielfalt ohne Einheit, dann befördere ich die Anarchie. Gegenwärtig können wir diese Entwicklung sehr deutlich beobachten. Immer wieder erschallt der Ruf nach dem Konsens, aber er geht immer mehr ins Leere, weil die substantielle Kraft fehlt, aus der heraus ein Konsens gebildet werden könnte. Genauso ins Leere geht die Debatte, der zufolge die Bundesrepublik eine Konsens- oder Konfliktgesellschaft sein soll. Das ist eine völlig abstrakte Diskussion, denn eine moderne Gesellschaft braucht Konsens in gleichem Maße wie sie Konflikt braucht. Ein Konflikt, der nicht an der Bildung eines neuen Konsenses orientiert ist, führt zur Gesellschaftszerstörung. Ein Konsens, der nicht die Kraft hat, auch den Konflikt auszuhalten, mündet in der Sklerotisierung und der Erstarrung. An dieser falschen Entgegensetzung von Konsens und Konflikt läßt sich die ganze Entwicklung in der Bundesrepublik seit 1949 zeigen. Es liegt nun einmal im Wesen des konservativen Gedankens und seiner Tradition, daß eine Gesellschaft sich jeder Konsensmöglichkeit beraubt, wenn sie nicht in der Lage ist, auch die essentielle Notwendigkeit für den gesellschaftlichen Bestand des Konservativismus einzusehen. Wenn auch künftig in jeder öffentlichen Debatte Konservative nur als Alibi zugelassen werden oder überhaupt unberücksichtigt bleiben, dann werden sich die am Konflikt ausrichtenden destruktiven Tendenzen in unserer Gesellschaft verstärken. Darum ist Konservativismus heute, ganz im Unterschied zu seinen bisherigen historischen Formationen, in der er bedrohte gesellschaftliche Bestände und Strukturen gegen überbordende Progressivität bewahren wollte, in diesem Sinne ein elementares Gebot der Gesellschaftserhaltung als solcher.

Und wenn die Konstitutierung einer starken und wirkmächtigen konservativen Kraft als notwendiges Regulativ zum liberalen System in der Bundesrepublik nicht klappt?

Rohrmoser: Es wäre eine optische Selbsttäuschung zu glauben, es gäbe den Konservativismus nicht. In allen übrigen Demokratien ist der konservative Gedanke ein integraler Bestandteil. Das läßt sich am Beispiel des Christentums in Amerika demonstrieren. Die Anstrengungen, mit denen Amerika sich aus den Untiefen liberaler Dekadenz zu befreien sucht, geht zurück auf die Existenz einer christlichen Rechten. Diese christliche Rechte in Amerika vertritt politisch alles das, was man in der Welt unter konservativ versteht. Ihr politischer Erfolg ist so groß, daß ohne Berücksichtigung dieser neuen Kraft keine Politik mehr möglich ist.

Nehmen Sie Frankreich. Dort hat es immer eine tief in der französischen Mentalität beruhende und verankerte konservative Kraft und konservative Infrastruktur gegeben und es lassen sich in Frankreich ähnliche Entwicklungen beobachten, die auf ein weiteres Erstarken des Konservativismus hinweisen. Oder Rußland. Die 20 Philosophen an der Moskauer Akademie der Wissenschaft können sich für Rußland überhaupt keine Zukunft mehr ohne Konservativismus vorstellen. Rußland ist heute so selbstverständlich konservativ, daß keiner auf die Idee käme, dies in Frage zu stellen. Der Konservativismus scheint für die Russen vielmehr der einzige mögliche Weg zu sein, aus dem Chaos herauszukommen, das der Sozialismus hinterlassen hat.

Wer die Entwicklung in der Bundesrepublik genau beobachtet, kann nicht übersehen, daß unterhalb der Schwelle der organisierten öffentlichen Meinung die konservativen Kräfte wachsen und dabei sind, weiter nach rechts zu rücken als es unseren Regierenden lieb ist. Eine der gefährlichsten Entwicklungen besteht darin, daß sich die offizielle Medienkultur, wie auch die Sprachkultur der Politiker inzwischen in einem riesigen Ausmaß von dem Empfinden und dem Urteil des Volkes entfernt hat. Dies stellt vielleicht für die Demokratie die gefährlichste Bedrohung dar.

Konservativismus kann man nicht machen. Konservativismus als Ideologie zu verkünden, wie die "Junge Freiheit" manchmal die Neigung hat, ist kein Konservativismus mehr. Der Konservativismus ist keine Ideologie, sondern konservativ heißt die Wirklichkeit im Blick zu behalten, die Realitäten dieser Welt ernsthaft zu berücksichtigen und dem, was in der Wirklichkeit auf dem Wege ist und zur Manifestation dringt, vielleicht auch sprachlich und intellektuell zu einem Ausdruck zu verhelfen. Insofern ist die große Philosophie in Europa, von Aristoteles bis einschließlich Hegel, nach unserem Verständnis von konservativ tatsächlich konservativ gewesen. Hegel hat dies abschließend auf die Formel gebracht, daß Philosophie nichts anderes sei, als zu begreifen, was ist. Konservativ kann es nur geben, wenn die Wirklichkeit im Hegel'schen Sinne auch eine Vernunft in sich trägt. Wird die Wirklichkeit als total absurd und unverbindlich gesehen, dann ist ein Konservativismus nicht mehr möglich. Wäre dies der Fall, dann stünden die Zeichen allerdings auf Sturm und die Bedingungen einer neuen Revolution reiften heran.

Heißt die Alternative für die Zukunft demnach: Europa muß und wird konservativ werden oder es droht die Anarchie?

Antwort Rohrmoser: Nicht im Sinne einer Forderung. Was Europa ist und Europa bedeutet, ist eine Frage, die nicht nur gänzlich offen ist, sondern die in unserem Lande überhaupt nicht diskutiert wird. Wir vergessen ständig, daß wir uns mit Maastricht auf ein Experiment einlassen, das in der Geschichte ohne Beispiel ist, und daß wir dieses europäische Experiment nur in den Kategorien von Ökonomie, Soziologie und Administration diskutieren. Wir sehen die EU also als ein ungeschichtliches Projekt, ohne dabei die geschichtlichen Wirklichkeiten Europas zu berücksichtigen. Wie sich dieses den Völkern aufoktroyierte Projekt zu dem geschichtlichen wirklichen Europa verhalten wird, darüber sind im Augenblick Prognosen nur schwer möglich. Vielleicht werden wir morgen ein einziger riesiger Markt von bloßen Produzenten und Konsumenten ohne daß es noch Franzosen, Engländer, Deutsche oder sonstwen gäbe. Dazu aber ist mit Ausnahme des deutschen Volkes - jedenfalls wenn wir den Reden unserer Politiker folgen - kein europäisches Volk gegenwärtig auch nur im Traume bereit. Ich glaube aber nicht daran. Vielmehr glaube ich, daß auch die Deutschen nicht hinnehmen wollen, sich einer neuen europäischen Handels- und Wirtschaftsunion zur noch erfolgreicheren Ausbeutung der Natur mit noch größerem Gewinn für das Kapital zur Verfügung zu stellen.

Herr Professor Rohrmoser, ich bedanke mich für das Gespräch.


 
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