© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/97  04. April 1997

 
 
Beutekunst: Was Rußland nicht zurückgeben will
Das Ausmaß der Raubzüge
von Jochen Arp

Es ist den Deutschen offenbar immer noch nicht ins Bewußtsein gedrungen, in welchem Maße Deutschland von den Siegermächten in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges und den Jahren danach seiner kulturellen Werke beraubt worden ist. Während US-amerikanische, britische und französische Gruppen raubten und plünderten, ohne dabei von ihren Regierungen gelenkt oder legitimiert zu sein, gingen die sowjetischen Truppen im Auftrage des Staatsführung systematisch vor. Auf deutscher Seite sucht man die Gründe für dieses barbarische Verhalten zum einen in Stalins Absicht, ein überdimensionales Kunstmuseum in Moskau zu errichten, in das die wichtigsten europäischen Kunstwerke gebracht werden sollten. Andere meinen, die Sowjetregierung habe sich der deutschen Kunstschätze als Faustpfand für Reparationszahlungen bemächtigt. Tatsächlich dürfte hinter diesen Raubzügen in erster Linie die seit der Antike nicht unbekannte Sucht von Siegern stecken, dem Besiegten seine Identität zu nehmen und sich an der Beute zu bereichern – Vereinbarungen des Völkerrechts hin oder her. Alle Diebstähle von Werken der Kunst und Wissenschaft sind nach internationalem Völkerrecht illegal, und das spätestens seit der Haager Landkriegsordnung, die von allen Staaten der zivilisierten Welt bereits vor neunzig Jahren unterzeichnet worden ist.

In der Sowjetunion waren gegen Kriegsende Spezialeinheiten gebildet worden, die der kämpfenden Truppe folgten und die keine andere Aufgabe hatten, als aus Museen, Bibliotheken, Kunstgalerien, Archiven – seien sie staatlich oder privat – alles Wertvolle in die Sowjetunion zu schaffen. Dabei stießen sie nicht nur auf jene Sammlungen und Bibliotheken, die aus Ost- und Mitteldeutschland, ihrer Besatzungszone, stammten, sondern auch auf solche aus Gebieten, die in die Hände der vorrückenden Westmächte gefallen waren und die, um sie vor dem Luftkrieg zu schützen, in sichere Depots in Ost- und Mitteldeutschland ausgelagert worden waren – sicher bis die Sieger kamen. So fanden die Sowjets nicht nur den weltberühmten von Schliemann entdeckten und legal aus der damaligen Türkei nach Deutschland gebrachten "Schatz des Priamos", das Gold aus Troja, sondern ebenso den aus der Bronzezeit stammenden größten deutschen Goldschatz, das "Gold von Eberswalde". Sie stießen auf die nicht minder berühmte Sammlung ostasiatischer Kunst aus Berliner Museen, auf die Bilder der Dresdner Galerie (die später zum kleineren Teil an die DDR zurückgegeben wurden), der Potsdamer Museen, die ausgelagerten Museumssammlungen von Aachen, Gotha, Weimar, Erfurt, Bremen, Dessau, Rostock, Schwerin, Magdeburg und vielen anderen Städten.

Sie entdeckten die kostbare Sammlung von Rüstungen aus dem Berliner Zeughaus ebenso wie die Exponate der Rüstkammer auf der Wartburg. Das alles betrachteten sie als Kriegsbeute, ebenso wie Gemälde von allen großen Malern der europäischen Kunstgeschichte, wie mittelalterliche Handschriften, kostbare Bücher, Nachlässe deutscher Dichter und Komponisten, wertvolle Möbel und Skulpturen, aber auch Ausstellungsstücke aus technischen Museen. – Das alles wurde in die Sowjetunion verschleppt. Dann breitete sich der Mantel des Schweigens darüber. Offiziell galten alle diese Werke als im Verlauf des Krieges vernichtet.

Die deutsche Regierung geht davon aus, daß sich in Rußland und anderen Staaten der ehemaligen UdSSR heute noch 2 Millionen Bücher, 200.000 Museumsobjekte, 3 km Archivgut und tausende von Kunstwerken befinden, darunter 63 Hauptwerke der europäischen Malerei des 14. bis 19. Jahrhunderts, so von El Greco, Goya, Tintoretto, Tizian, Rembrandt, Veronese, van Dyck, Lucas Cranach d.Ä., 74 Meisterwerke des Impressionismus, wie Werke von Renoir (von ihm allein 15 Bilder), Gauguin, Daumier, Degas, 7 Bilder von Cézanne, Monet, Toulouse-Lautrec, Matisse, van Gogh; 364 Aquarelle, Zeichnungen und Graphiken aus der Bremer Kunsthalle, so von Dürer, Goya, Rubens und Rembrandt. Neben den offiziellen staatlichen Raubzügen stahlen Sowjetmarschälle in großem Stil und auf eigene Faust. Einige wurden später in der Sowjetunion vor Gericht gestellt – nicht weil sie geplündert, sondern weil sie das Raubgut für sich behalten hatten. Aus den Gerichtsakten des Prozesses gegen den "Helden der Sowjetunion" Marschall Shukow ist bekannt, daß die ermittelnden Behörden in seiner Moskauer Stadtwohnung und seinem Wochenendhaus eine Unmenge von in Deutschland gestohlenem goldenen Schmuck entdeckten, 4.000 m Seide, Brokat und Samt, hunderte von Pelzen, 44 Teppiche und große Gobelins aus Potsdamer und anderen deutschen Schlössern, 57 "klassische Gemälde in künstlerisch wertvollen Rahmen", Kisten voller Kristall, Porzellan und Tafelsilber. Sicherheitsminister Abakumow berichtete Stalin, welche Unmengen von Plastiken, Marmorvasen, Möbeln, Teppichen, Geschirr sowie "von anderem ausländischen Schnickschnack" man entdeckt habe. "Auf dem Wochenendgrundstück (Shukows) findet sich nichts, was in der Sowjetunion hergestellt wurde, ausgenommen der Plattenweg von der Pforte bis zum Hauseingang. In dem Haus steht kein einziges sowjetisches Buch. Dafür wurden in den Bücherschränken Unmengen von Büchern mit herrlichen goldgeprägten Einbänden gefunden. Sie sind alle in deutsch."

Ähnliches entdeckte man bei Shukows Stellvertreter, dem General Teligin, bei Generalmajor Sidnjew, bei dem Bevollmächtigten des NKWD bei der 1. Ukrainischen Front Serow und andren hohen Offizieren. Aber auch der einfache Soldat zog marodierend durch das wehrlose Deutschland. Kunstdepots wurden geplündert. Mit aus den Rahmen geschnittenen Gemälden schmückte man Militärfahrzeuge. Später fand man in den Dreck getretene Kupferstiche Dürers und anderer Meister.

40.000 Kisten und Pakete mit Büchern transportierte die Rote Armee aus Luftschutzstellen bei Magdeburg ab. Zu ihnen gehörte der Fundus der Leipziger Universitätsbibliothek, damals die zweitgrößte Deutschlands. Ebenso erging es dem Fundus der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit altägyptischen Textsammlungen, einer Sammlung ältester Handschriften auf Papier, Pergament und Papyrus in arabisch, tibetisch, chinesisch sowie dem wissenschaftlichen Archiv der Akademie. Abtransportiert wurde auch das Archiv der Stadt Halberstadt, Teile des Archivs der Stadt Lübeck, der orientalischen Bibliothek der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die Bestände der Berliner Fotothek, das Bremer Stadtarchiv, der Fundus des Berliner Museums für Völkerkunde, ethnographische Sammlungen aus Europa, Amerika, Indien, China, Japan, Tonbandaufzeichnungen von Musik und Sprachen der Völker der Welt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen