© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/97  04. April 1997

 
 
Direkte Demokratie: Die neue Lust auf Mitbestimmung
Völker gebt die Signale
von Thorsten Thaler und Gerhard Quast

In Schleswig-Holstein haben über 120.000 Bürger mit ihrer Unterschrift einem Volksbegehren der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche zum Durchbruch verholfen. Damit will die Kirche erreichen, daß der Buß- und Bettag im nördlichsten Bundesland wieder zum gesetzlichen Feiertag wird. Ähnliche Volksinitiativen laufen in Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Zwei Wochen nach dem Start eines Volksbegehrens gegen die Rechtschreibreform in Niedersachsen haben sich 75.000 Bürger in die Unterschriftslisten eingetragen. Sechs Wochen benötigte die Initiative "WIR gegen die Rechtschreibreform" in Bayern, um 48.000 Unterschriften zu sammeln. In Schleswig-Holstein will der Landtag voraussichtlich im April über die von 65.000 Menschen unterstützte Initiative gegen die Reform entscheiden.

Ein von den Republikanern unterstütztes Volksbegehren gegen die Einführung der Euro-Währung sorgt seit Mitte Februar in Niedersachsen für politischen Zündstoff. Und in Bayern sammelt die Ökologisch-Demokratische Partei unter dem Stichwort "Schlanker Staat" Unterschriften für die Zulassung eines Volksbegehrens zur Abschaffung des Senats, der zweiten Kammer des bayerischen Parlaments. Wohin das Auge in diesem Frühjahr schweift, überall im Land scheint der Frust über "die da oben" in den Parlamenten und Regierungen einer neuen Lust auf Mitbestimmung zu weichen. Ein Vierteljahrhundert nach Willy Brandts Diktum "Mehr Demokratie wagen" fordern Bürger quer durch die Republik die Einlösung dieses bis heute ungedeckten Wechsels.

"In Deutschland gibt es einen Trend zur direkten Demokratie", stellt die bundesweite Bürgeraktion "Mehr Demokratie" fest. Allein im vergangenen Jahr haben nach Angaben des in München ansässigen Vereins Bürger die Rekordzahl von 190 kommunalen Volksabstimmungen – allein 121 in Bayern –herbeigeführt. Das seien 16mal mehr als vor zehn Jahren.

Regelmäßig spricht sich eine klare Mehrheit in Umfragen für eine direkte Beteiligung der Bürger an wichtigen politischen Entscheidungen aus. So ermittelte zuletzt die Forschungsgruppe Wahlen eine 70-Prozent-Mehrheit für die Einführung bundesweiter Volksentscheide. Ein Volk begehrt auf – und erntet dafür Kopfschütteln und hinhaltenden Widerstand ausgerechnet bei seinen Repräsentanten, den auf Zeit gewählten Volksvertretern. So versuchten in Bayern mehrere Gemeinden Anträge auf kommunale Volksabstimmungen per Gemeinderatsbeschluß einfach für unzulässig zu erklären und wurden dafür vom Verwaltungsgerichtshof München zurechtgewiesen. Auch die Kultusministerkonferenz dachte im März laut darüber nach, ob Volksinitiativen gegen die von ihnen beschlossene Rechtschreibreform nicht kurzerhand verboten werden können. "Die meisten regierenden Politiker tun sich sehr schwer damit, Macht an die Bürger zurückzugeben", betont auch Thomas Mayer, Geschäftsführer der Bürgeraktion "Mehr Demokratie". Wenn das Volk als Souverän die Entscheidung in die eigenen Hände nehmen will, hört auch für Politiker der Spaß auf.


 
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