© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/97  04. April 1997

 
 
Autonomismus: Gabriel Andres über die Identität der Elsässer und das neue Europa
"Horden deutscher Touristen"
Interview mit Gabriel Andres
von Nico Rubeck und Martin Schmidt

Herr Andres, das Thema Zweisprachigkeit wird heute in den Diskussionen der elsässischen Öffentlichkeit oft mit der Partei "Alsace d’abord" von Robert Spieler sowie interessanterweise auch mit dem Front National in Verbindung gebracht. Dabei müßte diese Frage eigentlich eine Domäne der Autonomisten sein, zu denen Sie sich rechnen?

ANDRES: Nun, Robert Spieler war schon zu Zeiten seiner Front National-Mitgliedschaft dafür bekannt, daß er für die Sache des Regionalismus ein offenes Ohr hat. So lassen sich auch seine späteren guten Ergebnisse mit "Alsace d’abord" erklären. Der Front National (FN) beruhigt die Elsässer in zweifacher Hinsicht: Einerseits haben sie den Eindruck, daß sich jemand ihrer regionalen Ansprüche und Nöte annimmt, und andererseits fühlen sie sich schon wegen des Parteinamens in ihrem Nationalgefühl bestärkt: Denn die Elsässer wollen gute Franzosen sein – sie sind die besten Franzosen. Das ist auf den Punkt gebracht meine Analyse der FN-Erfolge im Elsaß.

Zu den besonders guten Ergebnissen der Partei Le Pens im Elsaß gibt es ja eine Menge verschiedener Theorien. Was halten Sie von der These, daß die Bürger hier vor allem Recht und Ordnung besser gewahrt wissen wollen und die Masseneinwanderung ablehnen?

ANDRES: Das spielt bestimmt eine große Rolle; aber ich glaube nicht, daß es der entscheidende Punkt ist. Sowohl der Front National als auch Alsace d’abord möchten die Immigration mit drastischen Maßnahmen eindämmen. Und das entspricht meiner Meinung nach nicht dem Lebensgefühl des Elsaß. Das Elsaß ist ein typisches Durchgangsland und hat in vergangenen Zeiten immer viele Zuwanderer aufgenommen, die sich stets gut einleben konnten.

Aber die autonomistische Elsässische Volksunion UPA/EVU, dessen Führungskomitee Sie über lange Jahre angehörten, sowie die Zeitschrift "Rot un Wiss" beklagen doch vor allem die weitgehende Französisierung ihrer Heimat. Sind nicht auch die Nordafrikaner-Ghettos, die es in Straßburg oder in Mülhausen gibt, ein Teil der Französisierungs-Politik? Schließlich werden diese Leute kaum Träger einer spezifisch elsässischen Identität sein können.

ANDRES: Der französischen Politik ist es nach 1945 fast gelungen – aufbauend auf dem Haß, der den Exzessen des Nationalsozialismus folgte –, die elsässische Identität auszuradieren. Diese Entwicklung wäre genauso auch ohne die Zuwanderung der Nordafrikaner abgelaufen. Natürlich ist es für jeden Menschen ein Problem, wenn er sich in seiner Identität irgendwie bedrängt fühlt durch Leute die in größerer Zahl von außen hereinkommen. Aber dieses Gefühl haben die Elsässer vielleicht auch, wenn sie an Wochenenden beispielsweise in Straßburg spazierengehen, wo ganze Horden deutscher Touristen herumlaufen. Die kommen busweise an und werden bataillonsmäßig durch die heimeligen Gassen geführt. Da bin ich mir sicher, daß mehr als nur einige wenige Elsässer sich wie bei einer kleinen Invasion vorkommen.

Aber die Touristen sind nach zwei, drei Stunden weg, die Nordafrikaner nicht...

ANDRES: Natürlich. – Vielleicht kann man es so erklären: Im Grunde genommen sind wir alle etwas xenophob, und wenn einer gut reden kann, dann läßt sich dieses Grundgefühl auch verstärken und in politisches Kapital umwandeln. Aber man kann diese Leute auch nicht einfach aus der Gesellschaft ausschließen, das geht schon menschlich nicht und ist sicherlich keine Option der Politik. Man muß entweder die illegale Einwanderung unterbinden oder die Immigranten, wenn sie schon einmal hier sind, regional besser verteilen und nach Möglichkeit integrieren. Allzu lange Zeit hat sich die Regierung um diese jedoch überhaupt nicht gekümmert. Tatsache ist, daß sich diese Menschen in bestimmten Vierteln zusammenfinden und daß dann der Eindruck einer Überschwemmung durch die Fremden entsteht. Aber richtig unterwandert worden sind wir Elsässer von den Innerfranzosen. Und diese lernen kein Elsässisch; vor dem Krieg war das vielleicht noch so, danach aber bestimmt nicht mehr. Hingegen kann man durchaus einige Nordafrikaner treffen, die Elsässisch sprechen können und damit keine ideologischen Probleme haben. Sie kennen bestimmt das Kabarett "Barabli" von Germain Müller: Da spielt zum Beispiel auch ein Afrikaner mit, der Elsässisch genauso gut sprach wie wir.

Sie haben gesagt, die elsässische Identität sei nach dem Krieg fast ausradiert worden. Was ist denn übriggeblieben? Wo gibt es Anzeichen einer Art Wiederaneignung des kulturellen Erbes?

ANDRES: Zumindest wir Autonomisten bestehen immer wieder darauf, daß unsere Wurzeln deutsche sind. Aber auch sonst gibt es Anzeichen zur Hoffnung: Der erste Erfolg waren die Gründungen der privaten ABCM-Schulen für Zweisprachigkeit. Und diese Schulen entwickeln sich jetzt stetig weiter. Parallel dazu muß das staatliche Erziehungswesen reagieren, will es nicht Schritt für Schritt zur Seite gedrängt werden. So werden an den offiziellen Schulen mittlerweile immer mehr zweisprachige Klassen gegründet.

Der Deutschunterricht in der Schule ist die eine Sache, aber die Weitergabe des Dialekts, das ist doch eigentlich eine Angelegenheit der Familie. Selbst wenn in den Schulen der Deutschunterricht erheblich ausgeweitet wird, heißt das ja noch lange nicht, daß der Dialekt an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Dann hat man in Zukunft möglicherweise das Französische als Verkehrssprache und dort, wo es berufliche Vorteile bringt, wird noch die deutsche Hochsprache benutzt.

ANDRES: Ich denke, daß wenn der Deutschunterricht wieder gepflegt wird, wie sich’s gehört, dann lebt auch der Dialekt neu auf. Aber das wird Zeit kosten, denn viele Eltern, deren Kinder nun Deutsch erlernen, sprechen selbst den Dialekt nicht mehr.

Wie beurteilen Sie den gar nicht so unerheblichen Zuzug von Deutschen aus der Bundesrepublik ins Elsaß? Es gibt da ja in der elsässischen Öffentlichkeit deutliche Kritik, zumal es sich um eine bestimmte Schicht von Deutschen handelt, die sich im Elsaß billig große Häuser kaufen, deren Bezugspunkte aber jenseits des Rheins bleiben und die sich in ein selbstgewähltes Ghetto zurückziehen.

ANDRES: Mich persönlich stört dieser Zuzug nicht. Aber sehen Sie, wenn Leute in ein Dorf – sei es im Elsaß oder in Ostlothringen – aus der Stadt zuziehen, dann haben sie sowieso schon Mühe, sich dort einzuleben. Die Alteingesessenen nehmen sie nicht schnell auf. Das hat man schon vor dreißig Jahren gesehen, als auf dem Lande größere Neubausiedlungen aus dem Boden gestampft wurden. Da hörte ich beispielsweise in einem Dorf unweit von Straßburg am Karfreitag von Kindern auf meine Frage hin, ob sie mit ihren Ratschen auch ins Neubauviertel ziehen würden: "Nein, nein, die wollen nicht geweckt werden!" Das ist, denke ich, in etwa dasselbe Phänomen, wie bei den Bundesdeutschen, die zum Wohnen ins Elsaß oder nach Lothringen ziehen.

Ihre Hoffnungen für die Zukunft basieren wesentlich auf einem neuen "Europa der Regionen". Das ist bei den Aktivisten von Alsace d‘abord erklärtermaßen auch der Fall. Was unterscheidet nun eigentlich die "Autonomisten" von den "Regionalisten"?

ANDRES: Alsace d’abord-Chef Spieler hat unsere Philosophie zum Teil übernommen. Außerdem ist er allerdings xenophob orientiert, was wir entschieden ablehnen. Das ist ja der Grund, warum autonomistische Gruppierungen wie die EVU bei Wahlen nicht auf einen grünen Zweig kommen. Aber das von Robert Spieler ins Gespräch gebrachte Modell einer Großregion Baden-Elsaß in einem neuen Europa ist für absehbare Zeit – elsässischerseits – total unrealistisch. Wir wissen natürlich, daß wir uns mit unserer starken Betonung des Autonomie-Gedankens nicht nur thematisch stark einengen, sondern bei Wahlen schlecht dastehen, weil der Begriff "Autonomismus" hier bei vielen Leuten historisch bedingt immer noch einen schlechten Klang hat. Aber wir können nicht anders vorgehen. Im Elsaß ist der Regionalismus mehr oder weniger von Paris aus eingerichtet worden. Alle großen Parteien im Elsaß geben sich "regionalistisch": die UDF, die CDS, die RPR. Also, wenn auch wir uns nun noch "Regionalisten" nennen würden, verlören wir unser besonderes Profil. Wir wollen ja nicht nur unsere sprachliche Freiheit erreichen, sondern beispielsweise auch das Recht, die Steuern selbst zu erheben, um dann das nach Paris weiterzugeben, was wir beschließen, und nicht das, was an der Seine für uns beschlossen wird. – Wir wollen von Paris nicht getrennt, aber auch nicht bevormundet sein!

Dann ist es vielleicht das Problem, daß Sie in der Öffentlichkeit Ihre Gedanken nicht gut genug vermitteln können, daß Sie einfach nicht den erforderlichen Zugang zu den Medien haben?

ANDRES: Sowieso haben wir den nicht. Selbst wenn wir einen Zugang hätten, würde es im Moment wenig ändern: Die Elsässer möchten nicht, die haben Angst, daß man sie von Paris scheiden will, was völlig falsch ist.

Aber es gibt doch interessanterweise eine ganze Reihe von aus Ihrer Geschichte resultierenden Besonderheiten und Eigentümlichkeiten, an denen die Elsässer stark festhalten. Als es 1995 in Frankreich zu großen Demonstrationen wegen der Problematik der Krankenkassen und Sozialversicherungen gekommen war, blieb im Elsaß und in Ostlothringen alles ruhig. Dort sind – als Folge der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich nach 1871 – die Krankenkassen nicht im gesamtstaatlichen System drin und machen sogar Überschüsse.

ANDRES: Wenn man privat mit den Leuten diskutiert, so sind sehr viele Elsässer hundertprozentig mit dem einverstanden, was wir Autonomisten fordern. Aber sobald es an die Wahlen geht, entscheiden sie sich wieder für eine der etablierten Parteien. Motto: Bloß keine Experimente. – Vielleicht ist selbst dies ein deutsches Erbteil.

Glauben Sie eigentlich, daß die auf eine immer weitergehende Autonomie abzielende Entwicklung in Korsika in absehbarer Zeit stärkere Auswirkungen auf andere Regionen in Frankreich haben wird?

ANDRES: Es hat schon Auswirkungen gegeben, als bei den letzten Präsidentschaftswahlen die nationalistischen, autonomistischen und regionalistischen Parteien mit dem Korsen Max Simeoni einen gemeinsamen Kandidaten aufgeboten hatten. Leider wurde dies ein Fehlschlag. Aus dem Elsaß waren schon vorher Bedenken geäußert worden: "Warum wählt ihr ausgerechntet einen Korsen?", hat man uns gefragt. "Bei denen klappt doch nichts!" Und die Öffentlichkeit verbindet mit Korsika gerne Gewaltanwendung und die Mafia.

Was Korsika betrifft, so muß man ja leider den Eindruck gewinnen, daß erst Gewalt nötig ist, damit die Jakobiner in Paris berechtigten regionalen Forderungen Gehör schenken.

ANDRES: Ja, die Pariser, die sind verbohrt. Aber auch der Durchschnittsfranzose kann sich einen föderalen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland oder die Schweiz gar nicht vorstellen. Diese starren Verhältnisse sind es ja, die uns in eine extreme Position hineinrücken. Seit etwa zweieinhalb Jahren haben wir eine Föderation der nationalistischen, autonomistischen und regionalistischen Parteien mit dem Namen "Régions et Peuples solidaires". Da sind die Bretonen vertreten, die Korsen, Basken, Savoyarden, Flamen, die Katalanen u.a. Die Ziele dieser verschiedenen Parteien sind allerdings sehr unterschiedlich. So möchten die Basken natürlich den Zusammenschluß mit dem spanischen Baskenland in einem eigenen Staat erreichen; die Korsen wollen ebenfalls unabhängig sein; und auch die Katalanen spielen mit dem Gedanken eines Zusammengehens mit ihren "Schwestern und Brüdern" in Spanien.

Eine solche Option der Separation stellt sich aber für das Elsaß nicht?

ANDRES: Nein, nein! Das betonen wir immer wieder: Wir sind keine Separatisten. Denn wir wissen genau, daß die Elsässer Franzosen sein wollen. Aber wir sind deutsche Franzosen, und das müssen die Franzosen begreifen, und die Elsässer müssen es auch begreifen. Der Innerfranzose kann nicht verstehen, daß irgendein Teil des französischen Staatsgebietes sich nicht hundertprozentig "französisch" fühlt. Und die Deutschen, die verstehen dann wieder nicht, wie tief uns das Miterleben von dreihundert Jahren französischer Kultur geprägt hat. Ob das nun immer gute oder schlechte Einflüsse waren, sei dahingestellt, aber sie sind auf jeden Fall nicht mehr wegzudenken. Und die deutsche Option ist ohnehin spätestens nach dem Erlebnis der vier Jahre NS-Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg obsolet geworden; aber sie wäre auch prinzipiell nicht das richtige fürs Elsaß. Es werden viele Bücher geschrieben über die Zwangseingezogenen – ich war übrigens auch einer.

Ein Freund hat unlängst ebenfalls etwas dazu zu Papier gebracht, auf der einen Seite in deutscher und auf der anderen Seite in französischer Sprache. In einem Begleitbrief zu dem Buch hat er mir geschrieben: "Es ist halt so mit uns, wir sitzen zwischen zwei Stühlen." Daraufhin habe ich ihm zurückgeschrieben: Nein, wir sitzen nicht zwischen zwei Stühlen, wir sitzen auf einem französischen Stuhl, aber mit einem deutschen Arsch. Das ist vielleicht etwas drastisch ausgedrückt, aber so ist es. Wir haben im Elsaß viele Leute, die zum Teil ähnliche Ziele wie wir verfolgen, aber die wollen keine Politik machen: der "René-Schickele-Kreis" zum Beispiel oder die Vereinigung "Heimet". Aber ohne einen parteipolitischen Erfolg, ohne Abgeordnete, die in unserer Richtung wirken, wird es nicht gehen. Das sage ich den Vertretern dieser Kulturgruppen immer wieder. Aber es geht vorwärts momentan, wenn auch in kleinen Schritten. Ich bin da guten Mutes; selber werde ich es allerdings wohl nicht mehr erleben. In ein oder zwei Generationen schon wird sich vieles zum Positiven hin verändert haben. Man beachtet uns Autonomisten in der Öffentlichkeit zwar nicht beziehungsweise kaum, aber allein durch unsere Existenz üben wir einen gewissen Druck aus.

Am 16. Februar dieses Jahres haben Sie die Schriftleitung von "Rot un Wiss" niedergelegt und an den 29jährigen Karl Goschescheck übergeben. Außerdem haben sie sich aus der UPA/EVU zurückgezogen. Diese Schritte hängen mit einem Prozeß zusammen, der gegen Sie wegen des Vorwurfs der "Verherrlichung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Delikten der Kollaboration mit dem Feind" geführt wurde. Grundlage für die Klage und die am 10. Februar erfolgte Verhängung einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe waren zwei Rot un Wiss-Artikel.

ANDRES: Es handelt sich dabei um kleinere Leserzuschriften zum elsässischen Konzentrationslager Struthof, die in der Ausgabe vom März 1995 erschienen sind. Einerseits wurde darin über die Inhaftierung und Mißhandlung von Pétain-Anhängern in dem Lager nach Kriegsende 1945 berichtet, andererseits wurde ein Beitrag gezielt als Leugnung der Existenz von Gaskammern in Struthof vor der Befreiung interpretiert. Um die Mitarbeiter bei Rot un Wiss aus dem Kreuzfeuer der Medien herauszuhalten, nahm ich die Verantwortung für das Erscheinen der beiden Zuschriften auf mich, obwohl ein Redaktions-Komitee bestand, und legte das Schriftleiteramt sowie die UPA/EVU-Mitgliedschaft ab. Als dann aber einige der Mitarbeiter mich noch – wohl dummerweise – belasteten, mußte ich mich auch öffentlich wehren. Nun kann man nur hoffen, daß sich nach den jetzigen Turbulenzen die zerstreuten autonomistischen Kräfte wieder fester zusammenfügen!

Gabriel Andres, geboren 1925 in Erstein/Elsaß, gehörte dem Philharmonischen Orchester Straßburg an. Zwischen 1989 und 1997 war er Schriftleiter der autonomistisch orientierten elsässischen Zeitung "Rot un Wiss", die monatlich mit einer Druckauflage von 1.200 Exemplaren erscheint. Bis vor kurzem war er Mitglied des Führungskomitees der Elsässischen Volksunion (UPA/EVU).


 
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