© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
Lateinamerikanisierung: USA will die Türkei in der EU
NATO oder Europa
Meinungsbeitrag
von Josef Schüßlburner

Die Türkei drängt mit zunehmender Entschlossenheit auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Deutsche Politiker zeigen sich diesem Wunsch gegenüber (noch) äußerst reserviert, da sie befürchten müssen, daß das zivilreligiös (Wehrmachtsausstellung) eingeschüchterte deutsche Volk es wagen könnte, das vom Bundespräsidenten verhängte Dialogverbot über die Abschaffung des europäischen Währungswettbewerbs doch noch zu brechen. Die Frage der Mitgliedschaft der Türkei würde nämlich dem letzten Bürger klarmachen, daß "Europa" nicht nur die Vergemeinschaftung der Staatsschulden meint (dies bedeutet Währungsunion im Ergebnis), sondern noch erheblich mehr kostet, wie etwa die Masseneinwanderung dann sozialhilfeberechtigter Anatolier. Hört man allerdings genauer hin, muß man von der Entschlossenheit der politischen Klasse ausgehen, die Türken in die EU zu bringen. Nur so ist es zu erklären, wenn Roman Herzog davon spricht, daß Europa "kein christlicher Club" sei. Der Außenminister will denn auch schon die "in der Bundesrepublik lebenden Türken" wahlrechtlich den Europäern gleichstellen.

Der eigentliche Grund, weshalb er die politische Klasse die Türken früher oder später in der EU haben will, dürfte sein, daß die Nachkriegsparteien seit ihrer Gründung deutsche Freiheit unsouverän meist als Einsicht in die Notwendigkeit der US-amerikanischen Machtpolitik definiert haben. Schließlich hat die Türkei gedroht, die Ausdehnung der NATO nach Osteuropa mit ihrem Veto zu verhindern, falls ihr nicht die Mitgliedschaft in der EU zugesagt wird. Deutschen Politikern ist die Bereitschaft der USA, den Türken beim Erwerb der EU-Mitgliedschaft zur Vermeidung des türkischen NATO-Vetos zu helfen, schon fast Befehl.

Das amerikanische Eintreten für die aus NATO-Interessen motivierte EG-Mitgliedschaft der Türkei stellt sich deshalb als besonders ominös dar, weil derzeit bei der politischen Klasse der USA darüber diskutiert wird, ob dem türkischen Militär nicht die Lizenz gegeben werden soll, angesichts der Islamisierungstendenzen zum vierten Mal seit 1960 eine Verwestlichungsdiktatur zu errichten. Soll die politische Kultur und Ordnung der Türkei, in der das Militär verfassungsrechtlich für die Sicherung der Verwestlichung zuständig ist, mit der von der NATO verteidigten "westlichen Wertegemeinschaft" vereinbar sein, dann drohte mit einer von den USA erzwungenen EG-Mitgliedschaft der Türkei die Lateinamerikanisierung Europas. In Lateinamerika haben die Interessen der USA immer wieder die Militärdiktatur erzwungen, welche in absurder Weise damit gerechtfertigt wurde, daß sie der "Freiheit", weil den USA, diene. Ist nur so diesem Interesse gedient, dann darf es im Einzelfall in der Wertegemeinschaft schon einmal weniger frei zugehen. Wie auch die mit der NATO-Mitgliedschaft für vereinbar gehaltenen griechischen und portugiesischen Militärregime der Vergangenheit zeigen, kann diese Logik auch in Europa zur Anwendung gebracht werden. EG-kompatibel kann diese Logik jedoch nur dann sein, wenn man das türkische Prinzip einer prowestlichen Militärintervention in den demokratischen Prozeß als Vorbild preist: Die weitere Entdemokratisierung eines Staates zu einer Verfassungsschutzdemokratie, in der "Demokratiebehörden" den politischen Prozeß beeinflussen? Umgekehrt könnte über das politische System der Türkei die "German militant democracy" erst noch richtig militant gemacht werden. Fasziniert dies etwa deutschen Politiker?

Es dürfte klar sein, daß es bei einer derartigen Steigerung an Militanz mit "europäischen Werten" im derzeitigen Verständnis bald vorbei wäre. Wie beim erfolgreichen Nationalstaatskonzept bedeutet auch auf der Ebene von "Europa" die essentielle politische Entscheidung "Ausgrenzung". Was immer Herzog meinen mag: Soll Europa ein politisch sinnvolles und rechtlich vertretbares Konzept sein, wird sich Europa historisch auch unter Berufung auf die erfolgreiche Türkenabwehr des christlichen Abendlandes definieren müssen. Zur Definition ("Abgrenzung") einer europäischen Willenseinheit gehört heute letztlich auch die Ausgrenzung der USA, das heißt: die Auflösung der aus genuin deutscher Sicht sinnlos gewordenen NATO. Damit würde die Türkei ihrer Vetoposition verlustig gehen, womit auch ihre Ausgrenzung gesichert wäre. Mit NATO- und EG-Mitglied Türkei (und Marokko, Algerien, usw.) ist dagegen Europa zur Nachahmung der USA gezwungen. Diese konnten nicht als Konföderation der einheimischen (Indianer-) Völker gegründet werden, sondern nur durch deren Verdrängung durch Einwanderer. Bei einheimischen Völkern hätte ja immer ein "Rückfall in den Nationalismus" gedroht, während aus Einwanderern "geborene Amerikaner" gemacht werden konnten. Suchen nunmehr die erfahrenen Amerikaner trotz Fehlschlags vergleichbarer Bemühungen in Lateinamerika mittels NATO den "geborenen Europäer"? Hoffentlich nicht. Vielleicht bedeutet aber Europa doch etwas anderes. Dann gibt es nur eins: die NATO auflösen. NATO oder Europa


 
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