© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
Kohl, der Kutscher Europas
Kommentar
von Achim T. Volz

1871 setzte sich das soziale Gewissen der deutschen Katholiken, der Mainzer Bischof von Ketteler, mit Liberalismus und Sozialismus auseinander. Vom christlichen Standpunkt aus erscheine der zweite als der "widerspenstige Sohn" des ersten. Beide seien in falschen Annahmen darüber befangen, was der Mensch ist und wozu ihm sein individuelles wie gattungsmäßiges Leben gegeben wurde. Das

EpiphänomenSozialismus übernähme liberale Irrtümer, wende sie ins Kollektivistische und streiche das Eigentum. Das epochale Hauptübel sei, so Ketteler, die Verbindung von Liberalismus und finanzieller Großmacht "auf Kosten des Volkes". Denn: "Der Liberalismus unserer Tage ist mit den Geldinteressen innig liiert. Darum muß er mitarbeiten, dem Geldgewinn schrankenlose Freiheit zu geben. Absolute Herrschaft des Geldes und absolute Knechtschaft liegt in der notwendigen Konsequenz der liberalen Tätigkeit." – So urteilt die christliche Soziallehre, der neben C-Kanzler Kohl auch die C-Minister Blüm, Seehofer und Waigel nahezustehen vorgeben. Jüngst erst beweihräucherte die Union unserer Tage das kapitalismuskritische Ahlener-Programm der Nachkriegs-Christdemokratie.

Vor Ketteler war die soziale Frage das wichtigste gesellschaftliche Bewegungszentrum der sozialen Moderne und auch nach ihm führten die Krisen der Marktwirtschaft zu beschäftigungslosen Millionenheeren. Ein Blick in die Zeitgeschichte lehrt, wie immens die politisch-"humanitären" Kosten dieser Logik waren und sind. Nun kommen "Europa", der "Euro", und alles bleibt beim schlechten Alten. Dafür steht Helmut Kohl, der "Kutscher Europas" (Ein Attribut, das besser Metternich vorbehalten bliebe). Ja, der Dicke macht es noch einmal. Und gewinnt die Wahl, mit der sich die politisch phlegmatischen Deutschen abermals um allerlei fällige Entscheidungen drücken möchten. Weitere vier Jahre Kohl – das ist die sonderweghafte deutsche "Mitte" derjenigen, die mit ihrer Stimme das Politische, die konsequenzenträchtige Entscheidung für das eine und gegen das andere, wegwählen möchten.

Doch wenden die sich nicht gegen eine Chimäre? Hat dieses Syndrom es nicht längst besorgt? Kohl herrscht, aber er regiert nicht. Das tun die Märkte, die Finanzströme, die Großkonzerne. Ob da Kohl oder Schröder oder Helge Schneider irgendwo Wahlen gewinnen, tut kaum etwas zur Sache. Namen sind Schall und medialer Rauch; Fakt ist die wachsende Apokalypse-Trächtigkeit eines global entfesselten Liberalismus, dessen Oligopolen "die Gesellschaft nichts als eine Nutzveranstaltung" (Pius XI.) ist. Kohls monumentale Statur und Waigels potemkinsche Dörfer verdecken noch die Sicht.


 
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