© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
Kirche und Medien: Häufiger Fernsehkonsum verdrängt die Frage nach dem Tod
"Weil ich die Stille nicht aushalte"
von Helmut Matthies

Wir leben heute in einer Zeit, in der die Massenmedien Presse, Funk und Fernsehen eine so große Rolle spielen wie nie zuvor: Noch nie haben so viele Menschen so viel zu lesen, zu hören und zu sehen bekommen wie in der Gegenwart. Die Zeit, in der sich jeder Mitteleuropäer im Durchschnitt pro Woche mit Medien beschäftigt, 36 Stunden, nähert sich der Stundenzahl, die er arbeitet: 37,5 (im Osten 39,4). Doch das Medienangebot wächst weiter – nicht nur durch die geradezu uferlos werdenden Angebote auf der Datenautobahn, dem Internet. Laut Telekom soll es im Jahr 2000 mehr als 400 Fernsehprogramme geben – derzeit sind es in Deutschland 59.

Mehr als drei Stunden (1996 waren es genau 183 Minuten, neun mehr als im Vorjahr) sitzt der Deutsche laut Statistik pro Tag vor dem Bildschirm. Das sind rund 139 Arbeitstage im Jahr bzw. neun Jahre eines Durchschnittslebens. DieWirtschaftswoche titelte: "Die Menschheit droht, in der Informationsflut unterzugehen." Fest steht offensichtlich: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten wir so gute Möglichkeiten, uns zu informieren, und noch nie waren wir so schlecht informiert.

Der ranghöchste Lutheraner in Deutschland, Landesbischof Horst Hirschler, erfuhr am eigenen Leib, daß trotz zahlreicher religiöser Sendungen im Fernsehen nicht einmal allen Fernsehmachern bekannt ist, daß es zehn Gebote gibt. Der Bischof: "Spätnachmittags wurde ich von RTL aus Köln angerufen. Eine junge Frauenstimme war am Apparat, Stimmengewirr im Hintergrund. ’Ist da jemand von der Kirche?’ ’Ja’, sage ich, ’Landesbischof Hirschler.’ ’Was?’ fragt sie. ’Ich bin der Bischof’, sage ich. ’Toll’, sagt sie. ’Mensch, hier’, ruft sie in den Hintergrund, ’ich habe einen richtigen Bischof dran. Ja, also wir sind hier das Team für die Sendung ’Wie bitte?’ und wir haben eine Frage. Sagen sie mal, es gibt doch in der katholischen Kirche so Gebote. Kennen Sie die?’ ’Ja klar’, sag ich, ’das sind dieselben wie in der evangelischen Kirche.’ ’Ach’, sagt sie sehr interessiert. ’Was steht denn da drin? Sind das viele?’ ’Ja, das sind die Zehn Gebote.’ – ’Ach’, sagt sie, ’zehn?’ ’Ja’, sag ich, ’da stehn ganz vernünftige Sachen drin; fünftes Gebot: Du sollst nicht töten; siebtes: Du sollst nicht stehlen; sechtes Gebot, kann man sich gut merken wegen Sex: Du sollst nicht ehebrechen; achtes: Gebot: Du sollst keine falschen Nachrichten senden.’ ’Ach’, sagt sie, ’ist ja interessant.’ ’Und’, sag ich, ’es gibt Luthers Erklärungen dazu … beim fünften zum Beispiel – du sollst nicht töten – … daß wir unserem Nächsten an seinem Leben keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten.’ ’Toll’, sagt sie, ’Gebote gleich mit Gebrauchsanweisung. Sagen sie, können sie uns das nicht mal duchfaxen?’ ’Aber natürlich, geben Sie mir

Ihre Faxnummer.’ So kam also Luthers kleiner Katechismus zu RTL." Wie ist diese Unwissenheit trotz Informationsfülle möglich? Kaum ein Wissenschaftler hat sich darüber so viele Gedanken gemacht wie Neil Postman, dessen Medienbuch "Wir amüsieren uns zu Tode" zu einem Bestseller wurde. Seine Thesen: Nicht mehr das erklärende Hintergrundwissen steht im Vordergrund, sondern Nachrichten – in 45 Sekunden Länge – mit immer neuen Inhalten hintereinander weg. Die Folge ist, daß nach Untersuchungen 51 Prozent der Zuschauer sich wenige Minuten nach einer Nachrichtensendung an keine einzige Meldung mehr erinnern konnten. Ganz im Gegensatz zu Nachrichten aus Zeitungen. Dazu kommt: Nur zehn Prozent der Zuschauer schauen sich eine Sendung wirklich vom Anfang bis zum Ende an. Die Präsentation der Nachrichten im 45-Sekunden-Takt führt dazu, daß sie ohne Verbindung zu Vergangenheit, Zukunft oder zu anderen Ereignissen erfolgen müssen. Die Langzeitfolge: Man weiß vieles über die letzten 24 Stunden, aber kaum noch etwas über die letzten 60 Jahre.

Die Verbindung mit Werbung hat zur Folge, daß selbst größte Katastrophen letztlich belanglos erscheinen, folgt doch vor oder nach der Meldung über schreckliche Kriege, den Hungertod einer halben Million Menschen in einem Dritten-Welt-Land, die Werbung für Nutella, McDonald’s oder das weißeste Weiß unseres Lebens. RTL-Chef Helmut Thoma: "Für Geistreiches ist Fernsehen nicht geeignet." Dazu kommt ideologische Voreingenommenheit. Kein Berufsstand ist laut Medien-Untersuchungen so sehr von der Studentenrevolution der 68er geprägt wie der der Journalisten. Von daher bezeichnen sich 52 Prozent als linksstehend, nur 15 Prozent als konservativ. Oder nach Parteipräferenz ausgedrückt: Laut Infratest erklärten Ende 1996 deutsche Journalisten auf die Frage, welche Partei sie am nächsten Sonntag wählen würden: 27 Prozent die Grünen, 25 Prozent die SPD, elf Prozent die CDU/CSU und vier Prozent die FDP (der Rest wollte keine Angaben machen). Diese Ausrichtung führt dann natürlich auch zu entsprechender Wahrnehmung von Wirklichkeit.

In den Medien wurde in den ersten fünf Monaten 1996 (für die Zeit danach gibt es noch keine vergleichende Untersuchung) beispielsweise mehr als doppelt so häufig über rechtsextreme Gewalttaten berichtet wie über linksextreme. Tatsache aber ist, daß es wesentlich mehr links- als rechtsextreme Gewaltakte gab. Die Bevölkerung vermutet tatsächlich aber – laut Umfragen – nur eine rechtsextreme Gefahr. Eine linksextreme taucht in den möglichen Antworten ("Was fürchten Sie am meisten?") gar nicht erst auf. Die beiden Medienwissenschaftler Hans Bernd Brosius (Universität München) und Frank Esser (Universität Mainz) konnten folgendes in Blick auf Rechtsradikalität nachweisen: "Wenn ein Anwachsen und Abschwellen der Gewaltakte zeitlich einem Anwachsen und Abschwellen der Berichterstattung über Gewaltakte nachfolgt, reagieren die Gewalttäter auf die Medien." Das Fazit für die Zeit zwischen Anfang 1991 und September 1992 (als die großen Ausschreitungen in Hoyerswerda, Rostock usw. waren): "Hier kann eindeutig davon ausgegangen werden, daß die Berichterstattung über Rechtsradikalismus zu mehr Rechtsradikalismus geführt hat."

Die grün-alternative tageszeitung titelte im Blick auf den Umgang mit Medien: "Zweifelt an allem!" Das ist sicher übertrieben. Aber der wahre Kern ist: Es gilt, schwarz auf weiß Gedrucktes und noch viel mehr alles, was ich auf dem Bildschirm aufnehme, kritisch zu sichten, den Verstand nicht außen vor zu lassen, ja, zu fragen, ob das Berichtete überhaupt möglich sein kann.

Focus berichtete kürzlich, daß ein intelligenter Witzbold Nachrichtenagenturen mit frei erfundenen Meldungen narrte, um zu testen, ob sie überprüft würden. Beispielsweise Pressemitteilungen folgenden Inhalts: "Sonnenbaden verursacht Alzheimer" (wurde von der Hörzu veröffentlicht) oder ein Pilz auf Computertastaturen führe zu Hustenreiz (nachgedruckt vom Computermagazin Chip). Bei einer Umfrage ging es um das Thema: "Warum sehen Sie eigentlich so viel fern?" Auf einem Bogen mit möglichen Antworten kreuzte die überwiegende Zahl der Befragten an: "Weil ich die Stille nicht aushalte." Halte ich Stille aus? Komme ich auch einmal ohne Radio- und Fernsehberieselung aus? Wie ist das, wenn mal einen oder mehrere Tage der Fernseher kaputt ist? Ist es dann so, daß Probleme nach vorne dringen, die ich nicht bewältigt habe? Spätestens dann kann es notwendig sein, einmal ganz auf Radio, Fernsehen, aber auch auf andere Medien zu verzichten, die Flucht vor den eigenen Problemen zu beenden und sich ihnen zu stellen.

Der eine oder andere wird meinen, ein Leben zum Beispiel ohne Fernsehen sei nicht mehr möglich. Irrtum: 1,5 Millionen Bundesbürger bekennen, überhaupt nicht "fern" zu sehen. Laut Untersuchungen sind es nicht die Dümmsten, die Uninformiertesten. Sie zählen vielmehr, wie man früher sagte, zur Elite. Das Hauptproblem der heutigen Informationsvermittlung aber ist, daß die Medien den Menschen immer nur das geben möchten, was diese vermeintlich wollen. Von dieser Philosophie hängen die Einschaltquoten und davon wiederum die Werbeeinnahmen ab. Hier liegt ein großer Unterschied zwischen Medien und Religionen. Kein einziger großer Religionsstifter, weder Buddha noch Moses, weder Jesus noch Mohammed haben den Menschen nach dem Mund geredet. Sie haben immer nur das zu sagen versucht, was den Menschen ihrer Meinung nach not tat. Genau das aber bieten weder Medien noch Ideologien. Alexander Solschenizyn wurde einmal gefragt, woran letztlich der Kommunismus gescheitert sei. Seine Antwort: "Weil er keine Antworten geben kann auf die Frage nach Leid, Schuld und Tod." Tragfähige Antworten darauf aber finden sich in einem ganz bestimmten Medium, einem Buch: der Bibel.

Dieses Buch gibt Orientierung, stellt fest, worauf ich mich im Leben, im Sterben und sogar danach verlassen kann. Genau das, was durch Medienkonsum verdrängt wird: die Frage nach dem Tod. Der langjährige Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, sagte an seinem 60. Geburtstag: "Ich habe mir schon sehr früh klargemacht, daß die wichtigste Stunde im Leben die Stunde des Todes ist. Ich habe immer gefunden, daß wir Menschen einen kapitalen Fehler machen, wenn wir den Gedanken an den Tod verdrängen, wie es leider in der westlichen Welt gang und gäbe ist." Eine längere Amtszeit lehnte er ab mit der Begründung, er wolle sich auf den Tod vorbereiten. Recht hat er, und die wichtigste Hilfe zur Vorbereitung darauf ist die Bibel. Was überhaupt nicht bedeutet, daß – wie Karl Barth es einmal ausdrückte – zur Bibellektüre nicht auch die Zeitung (und heute sicher auch noch andere Medien) gehören sollte. (idea)


 
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