© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/97  25. April 1997

 
 
Jelzin in Deutschland: Rückruf der Deutschen in die Geschichte
Der Geist von Rapallo
von Dieter Stein

Das Geschenk, das Boris Jelzin bei seinem Deutschlandbesuch im Handgepäck mitführte, hatte es in sich: Symbolisch überreichte der russische Präsident dem deutschen Bundeskanzler Material aus dem Nachlaß des Reichsaußenministers Walther Rathenau. Dem Politiker, den am 24. Juni 1922 fanatische Freikorpskämpfer auf offener Straße ermordeten, gebührt das Verdienst, durch den vor 75 Jahren, am 16. April, geschlossenen Vertrag von Rapallo die außenpolitische Isolation Deutschlands kunstreich durchbrochen zu haben. Vorbereitet wurde der Vertrag von den an der Außenpolitik Bismarcks geschulten Beamten des Auswärtigen Amtes. Mit Rapallo erkannte Deutschland als erste europäische Macht das revolutionäre Rußland außenpolitisch an. Rapallo garantierte u. a. einen wechselseitigen Verzicht auf Reparationen und legte das politische Fundament für wesentlich brisantere "Gemeinschaftsprojekte": die geheime Aufrüstung der Reichswehr mit Hilfe der Roten Armee. Die Führung der Roten Armee wiederum wußte die Arbeit des formal nicht existenten deutschen Generalstabs zu schätzen.

Rapallo gilt allgemein auch als Symbol des verkrachten Verhältnisses Deutschlands zu den Westmächten und steht für die schwierige geopolitische Mittellage unseres Landes zwischen Ost und West. Boris Jelzin hat mit der Übergabe des Rathenau-Nachlasses der deutschen Regierung und Öffentlichkeit einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben. Die außenpolitische Lage Deutschlands 1997 ist mit der des Deutschen Reiches von 1922 jedoch kaum zu vergleichen. Deutschland lag 1922 beinahe bewegungsunfähig an den Ketten des Versailler Vertrages, der aufgrund seiner entwürdigenden und praktisch unerfüllbaren Bedingungen zu Recht "Diktat" gescholten wurde. Mit Hilfe Rußlands bekam die Republik unter der Regie Rathenaus die reale Chance, sich außenpolitisch freizuschwimmen. Nach der Ermordung des bedeutenden Politikers, versuchte Gustav Stresemann den begonnenen Weg fortzusetzen. Rathenau ging es damals darum, aus einem bankrotten, teilbesetzten, amputierten Deutschland ein handlungsfähiges und souveränes Gebilde zu schaffen, das von seinen ehemaligen Kriegsgegenern als Verhandlungspartner geachtet und respektiert würde.

Das Deutschland Helmut Kohls ist ein völlig anderes als das Walter Rathenaus. Kohls Deutschland ist ein wirtschaftlicher Riese, der politisch danach trachtet, sich – via Maastricht – in Europa aufzulösen, gleich einem Stück Zucker in der Teetasse. Ist Deutschlands Beitrag zum Frieden die Selbstaufgabe? Sollte es im Zuge der geplanten Osterweiterung von NATO und EU, die faktisch einen Ausschluß Rußlands aus Europa bedeuten würde, nicht gelingen, die Verantwortung in Brüssel abzugeben, erwacht das "Gespenst von Rapallo" als unerwünschter Gast der großen Politik zu neuem Leben. Dann wäre Deutschland gezwungen, seine nationalen Interessen deutlich zu formulieren. Die Frage ist, ob dies Kohl und Kinkel können.


 
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