© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/97  25. April 1997

 
 
Tragödie Kindesmißbrauch
Kommentar
von Heidrun Hagelstein

Alljährlich werden in Österreich ungefähr 600 Fälle von Kindesmißhandlung zur Anzeige gebracht. Rund die Hälfte der Angeklagten werden verurteilt. Ungleich höher ist aber die Dunkelziffer, was dann verständlich wird, wenn man die Tatsache in Betracht zieht, daß ein Großteil dieser Verbrechen im engsten Familienkreis stattfindet, und daß die Opfer – zumeist auch die "zuschauende Mutter" – in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zum Täter stehen. Der Täter ist selten der leibliche Vater, meistens der Stiefvater, Onkel oder Großvater. Erkannt wird Kindesmißbrauch in vielen Fällen von aufmerksamen Ärzten, die mit ihrem Hausverstand eine ihnen angebotene Unfallschilderung auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Um spektakuläre Schilderungen und abenteuerliche Ausführungen sind die Eltern meist nicht verlegen. Allerdings sei davor gewarnt, jedes vom Wickeltisch gefallene Kind mit blauen Flecken als mißbraucht anzusehen. Ist das Kind so schwer verletzt, daß eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus unumgänglich ist, so gelingt es den Schwestern und Ärzten in manchen Fällen, zu dem Kind eine Vertrauensbasis herzustellen, so daß ihnen einiges erzählt wird. Jetzt ist es wichtig, Schilderungen und Aussagen des Kindes ernstzunehmen, eventuell nachzufragen und sich nicht durch ein sympathisches Benehmen der Eltern irritieren zu lassen. Die Spätfolgen, mit denen diese Kinder oft lebenslänglich zu kämpfen haben, sind vielschichtig und führen im Extremfall dazu, daß aus früheren Opfern in der nächsten Generation Täter werden – oder stille Zeugen des Verbrechens am eigenen Kind.

Die Psychologie erklärt dieses Phänomen mit den vorsichtigen Worten, daß ein Mensch, der eine schwierige Situation zu bewältigen hat, diese unbewußt immer wieder herstellt, um sie endlich lösen zu können. Das bedeutet, daß sich ein ehemals mißhandeltes Kind so lange in gewaltbehaftete Beziehungen begibt, bis diese Problematik gelöst ist. Dieser Prozeß kann Jahre oder Jahrzehnte dauern, und manche Opfer schaffen es ihr ganzes Leben lang nicht, mit der schrecklichen Situation fertigzuwerden. Bezeichnend für die Situation, die unser täterfreundliches Strafrecht in Österreich geschaffen hat, ist der Auftritt eines Gerichtspräsidenten vor der Fernsehkamera: "Nach 30jähriger Ausübung des Richteramtes bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß es ja auch Opfer gibt …"

Wie schön, daß dieser Mensch überhaupt zu solch ehrlichen Worten fähig ist. Erschütternd allerdings, daß er zu dieser Einsicht drei Jahrzehnte gebraucht hat.


 
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