© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Der Staat fördert die Krankheit
von Hans-Ulrich Pieper

llis Huber, parteiloser Ärztekammer-Präsident, brachte es im Berliner "DienstagsGespräch" auf den Punkt: "Das Gesundheitssystem in Deutschland erfordert eine grundlegende Reform." Denn die Kosten unseres Krankensystems seien nicht durch "ein paar periphere Reparaturfunktionen" zu beschränken. "Überkapazitäten, unwirtschaftliche Strukuren und medizinisch nicht erforderliche Mengenausweitungen" macht ebenfalls der Bonner Gesundheitsminister Horst Seehofer als Ursache für die Kostenexplosion aus. Immerhin fast eine Systemkritik. Doch bei 235 Milliarden Mark Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen allein 1996 kommt wohl auch ein gewohnter Schuldenmacher in Bonn nicht mehr um Selbstkritik herum. Irgend etwas stimmt nicht mit dem System.

Die Deutschen sitzen auf einer Zeitbombe. Grund: Der Gesundheitszustand unserer Gesellschaft ist schlecht. Und von Jahr zu Jahr wird er besorgniserregender. Immer mehr Menschen werden krank. Darüber spricht keiner. Man spricht über Kosten, wenn es um die Gesundheit unseres Volkes gehen sollte. Dabei beschränken sich die zunehmenden Beschwerden der Bürger nicht nur auf Schnupfen, Heiserkeit oder Grippe. Dauerhafte Defekte sind auf dem Vormarsch: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettstoffwechsel-Störungen, Allergien oder AIDS bedrohen die Bürger. Selbst die lange totgesagte Tuberkulose (TBC) breitet sich weltweit wieder aus. Die Forscher der Pharma-Industrie, die ihre Forschungsinhalte an Krankheitsprognosen orientieren müssen, wissen: "Mit der Wohlstandsgesellschaft steigt nicht nur die Zahl der Übergewichtigen. Besorgniserregend nehmen vor allem Schädigungen an Wirbelsäule, Gelenken, Atmungsorganen sowie insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems zu."

Als vor über 100 Jahren die Krankenversicherung von Otto von Bismarck eingeführt wurde, waren Infektionskrankheiten und Unfälle, die jeden treffen konnten, die wesentlichen Risiken: Darauf war die Risikoverteilung die richtige Antwort. Heute sind mehr als die Hälfte aller Krankheiten, Unfälle und Frühinvalidisierungen Folge von zwei Neigungen, für die wir selbst verantwortlich sind: Alkohol und Zigaretten. "Der Pro-Kopf-Konsum von beidem ist seit 1950 auf das Vierfache gestiegen, der Frauenalkoholismus seit 1968 sogar auf mehr als das Zehnfache", stellt der Ulmer Professor Hans Helmut Kornhuber fest. Die Folgeschäden summieren sich Jahr um Jahr. Dazu kommt, daß jetzt die Jungen, die zahlen, immer weniger werden, während die Alten, die nicht mehr zahlen und öfter krank sind, länger leben: Bismarcks System wird unfinanzierbar. "In dieser Situation löst auch mehr Marktwirtschaft das Problem nicht", resümiert Kornhuber. Denn noch ehe viele junge Leute heute wirtschaftlich denken und sich gesundheitlich verantwortlich verhalten können, ist ein großer Teil von ihnen bereits alkohol- und zigarettenabhängig. Gibt es Lösungmöglichkeiten?

Helfen könnte die Einführung des Verursacherprinzips in das Gesundheitswesen. Gesundheitsabgaben auf Alkohol und Zigaretten – abführbar an die Krankenkassen. Das Verursacherprinzip gilt jetzt überall in Recht, Wirtschaft und Umweltschutz – warum nicht auch im Gesundheitswesen? Im Bundestag wurde kürzlich darauf hingewiesen, daß "unserer Gesellschaft volkswirtschaftlicher Schaden in einer nie gedachten Größenordnung durch Arbeitsunfähigkeit" entstehen wird – falls alles so weiter geht wie bisher. Bereits heute führen Herzkrankheiten bei davon betroffenen jungen Arbeitnehmern bis zu 20 Jahren zu einem durchschnittlichen Arbeitsausfall von 14,8 Tagen im Jahr. Bei den 40- bis 45jährigen sind es schon 55,8 Tage. Und 60- bis 65jährige Arbeitnehmer fallen allein wegen Herzleiden 114,7 Tage im Jahr aus dem Berufsleben heraus. Bei anderen Krankheiten sieht der Befund ähnlich aus: 31 Prozent der Krankschreibungen beruhen auf Muskel- und Skeletterkrankungen, 17,2 Prozent auf Atemwegserkrankungen, 12,7 Prozent auf Verletzungen und Vergiftungen. Tendenz steigend. Insofern stellt sich die Frage, wie dieser Trend gestoppt, die Gefährdung unserer Volksgesundheit abgewehrt werden kann?

Im Sozialstaat Schweden hat sich Erstaunliches ereignet. Bis 1991 war Schweden Spitzenreiter bei den krankheitsbedingten Ausfalltagen in der Industrie. Nachdem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in den ersten drei Tagen von 100 auf 75 Prozent und vom vierten bis zum neunzigsten Tag auf 90 Prozent gekürzt worden war, sind die Fehlzeiten drastisch gesunken. In Deutschland sind wir auf dem besten Weg, Schweden als Spitzenreiter zu überholen. Seit 1983 steigt der Krankenstand (mit Ausnahme des Jahres 1987) unaufhörlich. Rund 40 Milliarden Mark jährlich müssen derzeit für die Entgeltfortzahlungen aufgebracht werden. Diese Belastungen der Unternehmen droht weiterhin wesentlich schneller zu steigen als das Arbeitsentgelt.

Daß der Krankenstand in Westdeutschland außergewöhnlich hoch ist, zeigen internationale Vergleiche. Die Anzahl der krankheitsbedingten Ausfalltage im verarbeitenden Gewerbe lag 1995 in Japan bei 4,3 Tagen im Jahr, in den Vereinigten Staaten bei 7,1 Tagen, in der Schweiz bei 12,7 Tagen und in Westdeutschland bei 19,2 Tagen. Im öffentlichen Dienst sind diese Werte noch viel höher, offensichtlich deswegen, weil dort ein nahezu perfekter Entlassungsschutz praktiziert wird. Das Fernbleiben von der Arbeit häuft sich montags und freitags. Die Fehlzeiten sind dann zwei- bis fünfmal so hoch wie an anderen Wochentagen. Dabei haben Industriearbeiter nirgendwo eine so kurze effektive jährliche Arbeitszeit wie in Westdeutschland. Die in Schweden gesammelten Erfahrungen zeigen, daß die 100prozentige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für viele eine unwiderstehliche Versuchung bedeutet, hin und wieder "krankzufeiern".

Erschreckend aber wahr: Kein Mensch weiß in Deutschland, wie krank die Deutschen eigentlich wirklich sind. Es gibt keine bundesweite Krankheitsstatistik. Sieht man von Stichproben-Untersuchungen, regionalen Berufsverbands- oder Bundeswehruntersuchungen ab (die alle nicht repräsentativ sind) – kein Gesundheitsminister, kein Gesundheitspolitiker, kein Gesundheitsjournalist, kein Pharma-Hersteller, kein Arzt oder Apotheker kennt die genaue Zahl kranker Allergiker, Asthmatiker, AIDS-Kranker oder Wirbelsäulen-Geschädigter. Alle Angaben hierzu, die man gelegentlich liest, sind Schätzungen, nichts weiter als Hochrechnungen.

Was wir aus Bonn allerdings genau erfahren, sind die häufigsten Todesursachen, die "stillen Killer", wie man dort geschmackvoll reimt. So sind für 50 Prozent aller Bürger in der Bundesrepublik (West) Herz-Kreislauf-Krankheiten die Todesursache Nummer eins. Es stellt sich also die Frage, warum es in Bonn kein Interesse gibt festzustellen, wie krank die Deutschen sind. Allein auf der Basis eines genauen Befundes ist aber Besserung zu erwarten: für die Wirtschaft, die Arbeitsausfall-Zeiten frühzeitiger kalkulieren könnte; für verantwortungsbewußte Volksvertreter, denen die Für- und Vorsorge für das eigene Volk und dessen Gesundheit am Herzen liegen.

Alle zwei Jahre muß das Auto zum TÜV: Was der Technik recht ist (um Unfälle zu vermeiden), sollte den Menschen nur billig sein. Schaden vermeiden durch Gesundheitsvorsorge. Vorsorge-Untersuchungen als bürgerliche Pflicht. Und: Wer sie versäumt, erfährt dies durch höhere Beiträge an die Krankenversicherungen. Diese Für- und Vorsorge verantwortungsbewußter Volksgesundheitspolitik kann nicht erst im Erwachsenenalter, wie bei den weithin erfolglosen Krebsvorsorge-Untersuchungen, ansetzen. Hier bildet sich kein Gesundheitsbewußtsein mehr: man geht zum Arzt, wenn man krank ist – also viel zu spät!

Die Prävention muß im Kindesalter einsetzen: Mit einer kontinuierlichen Gesundheitserziehung. Mit effektivem, täglichem Schul- und Breitensport. Mit einem lebenslangen, individuellen Gesundheitspaß, der dem Bürger und seinem Arzt Aufschluß über Arzneimittel, Krankheiten und Krankheits-Therapien gibt. Und: Mit einem grundsätzlichen Umdenken vom Krankenversorgungssystem hin zum Gesundheitserhaltungsprinzip. Weg vom System, das Krankheit erhält – hin zum System, das Gesundheit wiederherstellt und fördert. Der Vorschlag ist einfach: der Bürger bezahlt seinen Arzt – solange er gesund ist! Wird er krank, wird die Honorierung des Arztes für die Zeit der Krankheit unterbrochen. Der Arzt, der nach dem heutigen System solange verdient, wie der Patient krank ist, hätte ein besonders nachhaltiges Interesse, seinen Mitbürger gesund zu erhalten, ihn ganzheitlich zu betrachten und präventiv zu beraten. Dabei müßte sein Einkommen keineswegs sinken. Die Pharma-Industrie, die heute umso mehr verdient, je länger Patienten an ein Präparat gebunden werden, wäre besonders interessiert, Medikamente zu entwickeln, die wirklich gesund machen. (Meist mildern Medikamente heute Leiden, aber sie heilen nicht – zumindest bei schweren Erkrankungen).

Und ihre Bilanzen müßten keineswegs mit "roter Tinte" geschrieben werden, denn mit zunehmendem Alter der Bevölkerung wächst auch der Arzneimittel-Bedarf. Umfassende Prävention bietet den Pharma-Firmen überdies beachtliche neue Märkte. Die Krankenkassen würden mit zunehmendem Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitsverhalten der Bürger in ihren Budgets entlastet, das heißt auch die Beiträge könnten zumindest stabil bleiben.

Blüms "Jahrhundert-Reform", die allein Krankheitskosten senken sollte, überdauerte keine zwei Jahre. Dann war das Reformwerk reformbedürftig. Seehofers "Sparpaket" hat das gleiche Ziel. Es wird scheitern, weil es den Gesundheitspolitikern vorrangig nicht um Gesundheit geht. Bonn bekämpft die Pocken, indem es ihre Symptome, die Flecken auf der Haut, beklagt. Die Gesundheitsminister kommen und gehen, doch das Problem bleibt bestehen: das ganze Gesundheitssystem ist krank.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen