© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Vormund Staat
Kolumne
von Hans-Helmuth Knütter

Kurz vor dem Ende der DDR erschien ein aufsehenerregendes Buch von Rolf Henrich, SED-Mitglied und prominenter Rechtsanwalt in Frankfurt/Oder: "Der vormundschaftliche Staat". Damit kritisierte er sein System, und die Folgen ließen nicht auf sich warten: Er flog aus der SED und seinem Beruf. So etwas konnte natürlich nur in der DDR passieren. In der BRD, dem "freiheitlichsten Staat der deutschen Geschichte" wäre das ganz unmöglich. Oder doch nicht?

Erleben wir nicht eine Fülle von Gesinnungsprozessen, stellte nicht der Bundesjustizminister besorgt fest, 1996 seien in 6.428 Fällen Telefone abgehört worden, Tendenz steigend? Sprechen nicht Politiker des Establishments davon, der politische Gegner müsse stigmatisiert werden, und werden die Verfassungsschutzberichte nicht auch kräftig in dieser Hinsicht mißbraucht? Die warnenden Hinweise auf die Bedrohung der Freiheit sind durchaus vorhanden.

Allerdings: Es kann kein Staatswesen geben, das auf die Beeinflussung der Meinung und des Verhaltens seines Bürger völlig verzichtet. Auch eine weltanschaulich neutrale Demokratie kann nicht völlig auf ein Staatsethos – die freiheitliche demokratische Grundordnung – verzichten. Aber der Rahmen des Freiheitlichen muß weit, sehr weit gefaßt sein. In der BRD gab es in der Zeit des Kalten Krieges ein rigoroses Staatsschutzrecht, das sich zwischen 1951 und 1969 vor allem gegen die extreme Linke richtete. Durchaus zu Recht, denn diese Linksextremisten, vor allem KPD und später die DKP, waren Agenturen einer feindlichen Macht, der Sowjetunion und ihres Satelliten, der DDR. Denen gehörte die Loyalität der Kommunisten, nicht der BRD, die sie deshalb mit Recht bekämpfte. Allerdings: Freiheitlich war die BRD auch damals nicht, denn man hatte eben nicht die Freiheit, sich aktiv zum Kommunismus zu bekennen.

Diese Tendenz zur Unfreiheit, zur Bevormundung der Staatsbürger, richtet sich seit dem Ende der "realsozialistischen" Gefahr in erster Linie gegen eine fiktive Gefahr von rechts und neuerdings gegen sogenannte Sekten. Ein weltanschaulich neutraler, pluralistischer Staat hat sich hier herauszuhalten. Mischt er sich vormundschaftlich ein, maßt er sich gar ein Recht zur Bekämpfung an, wird er selbst tendenziell totalitär.

Was ist zu tun, um die bedrohte Freiheit zu wahren? Wenn die Betroffenen ihre Vereinzelung überwinden, ist es möglich, die Entwicklung umzukehren, denn das Establishment handelt gegen seine eigenen Grundsätze und ist deswegen in einer schwachen Position.

Prof. Dr. Hans-Helmuth Knütter lehrt Politikwissenschaft in Bonn


 
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