© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Die Medien und die Ausstellung: Reflexionen über Jan-Philipp Reemtsma und Hannes Heers Geschichtsinterpretation
Kapitulation vor der Macht der Bilder
von Karl-Otto Kretschmar

Wer offenen Auges und mit historisch geschärftem Gewissen durch die Heer-Reemtsma-Ausstellung ("Verbrechen der Wehrmacht", derzeit in Frankfurt am Main zu sehen) geht, befindet sich in einem doppelten Dilemma: Da ist einerseits das Wissen um Verbrechen, die heute meist mit "Verstrickungen" der Wehrmacht umschrieben werden, da ist andererseits das Wissen um die Absicht der Ausstellungsmacher sowie ihrer politischen Sponsoren, "Geschichtspolitik" zu betreiben, genauer, den Begriff der deutschen Kollektivschuld erneut ideologisch aufzubereiten. Da ist einerseits die Suggestion der Bilder, denen sich selbst der distanzierte Betrachter schwer zu entziehen vermag. Da ist andererseits die durch Texte (der Wehrmacht wird, wohl der historischen Kürze halber, auch der von Mussolini im Oktober 1940 inszenierte Angriff auf Griechenland als "Überfall" am 6. April 1941 zugeschoben) und Bilder (Bernhard Wickis Film "Die Brücke" rangiert hier unter den verharmlosenden Produkten der 50er Jahre) bestätigte Erkenntnis, daß "Aufklärung" hier in manipulativer Absicht betrieben wird: Die Macht der Schreckensbilder soll Fragen zu den Bildern und Texten gar nicht erst aufkommen lassen, durchaus im Sinne des Aufklärers Reemtsma, der denkt, "daß eine solche kognitive Operation nicht emotionsfrei geschehen kann".

Die Macht der Bilder verbietet jeden Widerspruch beim Betrachter, verdeckt auch jeden Widerspruch im Werke selbst. Vor allem zu jenem Widerspruch, den die Macher ihrem Werk vorangestellt haben: Einerseits heißt es da mit polemischer Spitze gegen die angebliche "Legende von der ’sauberen Wehrmacht’", mit der Behauptung, die Truppe habe von den Greueltaten der Einsatzgruppen nichts gewußt, seien "Millionen ehemaliger deutscher und österreichischer Soldaten freigesprochen worden". In der Umkehrung bedeutet dieser Satz nchts anderes, als daß eben diese "Millionen" – die Österreicher kämpften im Zweiten Weltkrieg als Deutsche – zumindest als Mitwisser schuldig geworden seien. Sodann wird – ungeachtet der Unterstützung des Aufklärungswerkes durch Manfred Messerschmidt, bis 1988 "Leitender Historiker" im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg – behauptet, die deutsche Militärgeschichtsschreibung weigere sich, "einzugestehen, daß die Wehrmacht an allen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt war." Eine aufklärungspolitische Petitesse, die – im Unterschied zu den um Traditionspflege besorgten Demokraten auf der Bonner Hardthöhe – den Millionen toter und davongekommener Wehrmachtssoldaten, die seinerzeit die höchst ungewisse Chance des Überlebens in ihrem "Haufen" der noch unvorhersehbaren Chance nachmaligen Heldentums durch Desertion aus mancherlei Motiven, auch aus Kosten-Nutzen-Erwägungen vorzogen, herzlich gleichgültig sein mag.

Auch von der aufklärerischen Pädagogik, mit der die Überlebenden von den FestrednerInnen in der Münchner Universitätsaula, in der Frankfurter Paulskirche und sonstwo im Frühjahr 1997 umsorgt werden, haben die Überlebenden wenig. Vermutlich sind sie für Lernprozesse einfach auch schon zu alt ("Greise"). Da sie in den Jahren nach 1945 die Feinheiten politischer Aufklärung meist nicht mitbekamen, kennen die wenigsten von ihnen den Wortlaut jenes letzten Flugblatts der "Weißen Rose", in dem Professor Kurt Huber an die deutschen Studenten appellierte: "Es kann für uns kein anderes Ziel geben als die Vernichtung des russischen Bolschewismus. Stellt Euch weiterhin geschlossen in die Reihen unserer herrlichen Wehrmacht". Gewiß, Hans Scholl und Alexander Schmorell, die in Rußland genug gesehen hatten, strichen in bitterem Streit mit ihrem Mentor Huber diese Sätze aus dem Flugblatt… Der Abdruck jenes Huber-Textes wurde sodann von den amerikanischen Besatzungsbehörden nach 1945 verboten. Inzwischen ist man geschichtspädagogisch auch schon weiter, und so suchen deutsche Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler in ihren Geschichtsbüchern die Schlußsätze jenes am 18. Februar 1943 in den Lichthof geworfenen, redigierten Flugblatts ("Studentinnen und Studenten !Auf uns sieht das deutsche Volk! etc." ) unter der Rubrik "Quellentexte" vergebens…

Den Alten, die sich der Ausstellung unterziehen, sollen die Bilder zu später Einsicht verhelfen, die Jungen sollen kapitulieren vor der Macht der Bilder. Gewiß es geht – nach dem jähen Ende der Friedenspädagogik im Jahre des zweiten Golfkrieges 1991 – nicht mehr um Betroffenheit, sondern um das Gespräch zwischen den Generationen: "Opa, erzähl mal…" Wo Opa noch immer nicht erzählen will oder auch gar nicht erzählen kann, weil Papa den abwesenden Opa, nur als jungen Mann von Bildern in Wehrmachtsuniform kennt, kommt das therapeutische Gespräch zwischen den Generationen eben nur über die Medien in Gang: Bilder der Ausstellung aus dem Hause Reemtsma, wohlgesetzte Reden zur Eröffnung der Ausstellung, personell einwandfrei besetzte ("ausgewogene") Talkshows, dazu marschierende Neonazis, ein paar kopfschüttelnde alte Männer ("Greise", an ihren Stöcken hinkend), sowie ein paar unbelehrbare "Ewiggestrige", vorzüglich farbentragende Akademiker, Apologeten des Grauens in der "Grauzone" zwischen Konservativen und Rechtsextremisten.

Schnitt: Wehrmachtssoldaten – von Uniform-Spezialisten "eindeutig" als solche identifiziert – vor einem Galgen mit Erhängten, feixende Landser, die einem alten Juden mit der Schere an den Bart gehen, Mordschützen in Uniform an der Schlucht von Babij Jar… Der wissenschaftliche Charakter der Ausstellung, so der beliebig zitierbare Kommentar, sei – von einigen wenigen, nicht genauer lokalisierbaren Szenen abgesehen – unbestritten; angesichts der grauenvollen Bilder sei die Forderung nach Differenzierung identisch mit Relativierung, ja Verharmlosung des Verbrechens. Kritik verrrate das Bedürfnis nach Revisionismus, ziele auf die Wurzeln unserer Demokratie. Gefordert ist die Kapitulation vor der Macht der Bilder zum Nachweis des demokratischen Gewissens

Die Medienkampagne setzte ein mit dem Gegenangriff Peter Gauweilers in München. Zur Eröffnung der Ausstellung im Rathaus stimmte die Süddeutsche Zeitung ihr Publikum im Feuilleton auf "Die gräßliche Wahrheit der Bilder ein". Bei der Journalistin hatte die große Stelltafel neben dem Eisernen Kreuz die beabsichtigte Assoziation geweckt, "die Reihe der aufgeknüpften Hühner … erinnert nicht zufällig an die von den Balkonen hängenden Leichnamen in Charkow auf den Photograpien … nebenan." Die gräßlichen Bilder – für sie fast nicht zu ertragen, "nicht weil sie die deutsche Soldatenehre verletzten. Sondern weil sie genau benennen, wo und wie häufig deutsche Soldaten und Offiziere gegen internationales Kriegsrecht und die Gesetze der Menschlichkeit verstoßen haben." Auf welcher Seite die SZ im politischen Streit um die historische Wahrheit stand, war auch dem flüchtigen Leser beim ersten Blick auf die Lokalseite klar: Frisch und fröhlich demonstrierten auf dem Bild oben bayerische Grüne gegen die "CSU – auf braunen Socken – in den rechten Sumpf". Im Bild unten demonstrierten die als solche bezeichneten "Macher" um Hannes Heer samt der für den Massenandrang zuständigenVHS-Programmdirektorin mit besorgten Mienen Fachkompetenz.

Längst hatten sich die TV-Medien des "schwarz-braunen" Skandals in München angenommen, da machte auch der "Spiegel" auf dem Titelblatt mit einem graphisch verfremdeten Bild jener Erschießungsszene auf, bei der dem Wehrmachtsfotografen Gerhard Gronefeld – und nach dessen eigenem Bekunden eben auch den herumstehenden Soldaten ("Gaffer") – im April 1941 das Blut in den Adern gefror. Von Augstein hätten die Leser einen detaillierten Bericht über die Schrecken des Krieges aus der Sicht eines illusionslosen Wehrmachtssoldaten an der Ostfront erwartet. Er begnügte sich mit einer ziemlich pauschalen Rechtfertigung der Zwecke der Ausstellung.

Wochen später, zu Beginn der Inszenierung in der Paulskirche, gewann die Reemtsma-Ausstellung dank einem Interview des sonst eher linksliberalen Ulrich Raulff in der FAZ doch noch an aufklärerischer Brisanz. Der Reemtsma-Erbe und Mäzen des Hamburger Instituts für Sozialforschung verlor beim Insistieren auf biographisch relevanten Fakten zur Rolle des Hauses Reemtsma – Nazipropaganda gestern, Aufklärung heute – die Contenance: "Diese Art der Analogie verbitte ich mir". Während einige Leserbriefe dem Mäzen Reemtsma zu Hilfe eilten, stellten andere den direkten Zusammenhang des Hauses mit den NS-Verbrechen her: Da gab es neben dem mit Göring befreundeten Vater noch einen Onkel bei der SS, der im Oktober 1941 in Lettland die Errichtung eines KZ betrieb … Der betreffende Leserbrief trifft mit der Vita des Hamburger Mäzens den Kern bundesrepublikanischer Erziehung: "Er sozialisiert sozusagen die familiäre Schuld und versteckt diese hinter dem breiten Rücken der Nation."

Doch verstellt nicht die Macht der Bilder stets genau die Erkenntnis von den Tiefenschichten der bundesrepublikanischen politischen Psychologie? Erste Schritte zu derart kritischer Aufklärung verdanken wir der Spiegel-Konkurrenz Focus: Dort stoßen wir auf die biographische Verschlungenheit der "linken" Meinungsmacher mit ihrem "rechten" Feind Gauweiler. Nicht zuletzt wird belegt, wie die Aussteller mit der bedrückenden deutschen Geschichte zum Zwecke höherer Wahrheit verfahren: oberflächlich, schludrig, fahrlässig bis hin zur offenen Fälschung.

Wird durch derlei Erkenntnis das Gewissen der Macher, die pseudomoralische Beflissenheit ihrer politischen Förderer erschüttert? Irritiert werden vielleicht einige bei der Lektüre der Berliner Zeitung. Da kommt zwar erneut Manfred Messerschmidt als Befürworter des pädagogischen Zwecks zu Wort: Die junge Generation habe den Sinn der Ausstellung verstanden. Doch ein paar Tage zuvor äußerte Michael Mönninger deutliche Bedenken gegen eine "Geschichtskunde als Schocktherapie". Er endete mit Sätzen, die auch manchem linksliberalen ex-pazifistischen Liebhaber der Ausstellung unter die Haut gehen könnten: "Vor dem Hintergrund aktueller Debatten über Soldaten als Mörder und Auslandseinsätze der Bundeswehr spiegelt die Ausstellung nicht allein vergangene deutsche Daseinsverfehlungen … Die Schau mag … nicht allein als Höhepunkt moralischer Selbsterbauung der Friedensgeneration verstanden werden, sondern auch als Abschied davon".

Dazu nun die zornerfüllten Worte aus der Feder des preisgekrönten Historikers Jörg Friedrich in der Berliner Zeitung: "…das Blutmeer, in dem die deutsche Nationalgeschichte zeitweilig eingetaucht und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, verlangt andere Denkanstrengungen als solche Brechmittel." "Warum lassen [deutsche] Militärhistoriker und Völkerrechtsgelehrte unsere Jugend durch solch einen polemischen Mist laufen? Warum bringen sie bei so viel Geschichtshunger nicht eine Ausstellung zuwege, die der bleichen Würde von so viel zugefügtem Leid gerecht wird?" Wie lange noch mobilisiert man in Deutschland gegen historisches Wissen und humanes Selbstbewußtsein die ideologische Macht der Bilder?


 
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