© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Pankraz, der weise Lao-Tse und die Regierung als Fischbraterei
von Günter Zehm

Pankraz kennt einen (jetzt pensionierten) Publizisten, der regte sich in seiner aktiven Zeit in jedem seiner Beiträge über die Zustände im Lande derart auf, daß man fast um seine Gesundheit fürchten mußte. Alles sah er in schwärzesten realistischen Farben und schäumte es mit seinem furchtbaren Zorn ein: den rapiden Verfall des "Standorts Deutschland", den "Reformstau", die hinterhältige Geistesdiktatur allenthalben, die Feigheit, den Egoismus, die flächendeckende Verblödung. "Mein Gott", dachte man bei der Lektüre, "der gibt’s der Regierung aber ordentlich".

Doch dann kam die Volte. Der Zornschnaubende, so entdeckte man regelmäßig gegen Ende der Aufsätze, meinte gar nicht die Regierung, sondern er meinte die Opposition, die Medien, die Gewerkschaften, die Chaoten, die Rechtsextremisten, "die Deutschen" allgemein, die verkalkten Alten, die frechen Jungen, Heiner Geißler, Rita Süssmuth, diesen und jenen, nur nicht die Regierung. Im Gegenteil, so suggerierte er, die Regierung, besonders der Bundeskanzler, kämpfe einen herkulischen, schier verzweifelten Kampf gegen all die Mißstände, nur, ihr würden immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen, sie könne definitiv nichts machen, die arme, arme Regierung. "Die Zustände sind grauenhaft, die Bosheit nimmt überall rapide zu, aber die Regierung ist gut, an ihr liegt’s nicht". Mit dieser rhetorischen Figur kam der Mann prächtig über die Runden, festigte seinen Ruf als brillanter Kritiker.

Eine ähnliche Figur gebrauchte kürzlich der ehemalige Ludwig-Erhard-Berater J. Gross. Was die Regierung mit der deutschen Mark mache, schrieb er in einer Betrachtung zur Euro-Frage, nähere sich allmählich schwerkriminellen Machenschaften, indes, es sei doch immerhin "gutgemeint" und beruhe im übrigen auf wirtschaftlicher Ahnungslosigkeit. Als hätte es nie die Sprüche "Gutgemeint ist das Gegenteil von gut" und "Dummheit schützt vor Strafe nicht" gegeben!

Nun sagt freilich schon der weise Lao-Tse in seinem Buch "Tao-te-king": "Diejenige Regierung ist die beste, deren Wirken man gar nicht merkt". Und er sagt weiter: "Man muß ein großes Reich regieren, wie man Fische brät", also im Gestus der Zurückhaltung, der Beiläufigkeit, der Respektierung des Selbstlaufs. Auch wäre festzuhalten, daß eine Regierung wahrhaftig nicht für schlechthin alles, was schief läuft, verantwortlich gemacht werden kann, wenigstens nicht in einer Demokratie, wo ihre Spielräume gesetzlich eingeschränkt sind.

Hinwiederum sollte man die bekannte Sentenz von Willy Brandt bedenken: "Ab einem gewissen Alter ist jeder selbst für sein Gesicht verantwortlich". Sogar in der Demokratie gilt: Wenn ein und dieselbe Regierung sehr lange am Ruder ist (sagen wir: über zehn Jahre lang), dann darf sie sich nicht darüber wundern, daß sie mit den Zuständen im Lande voll identifiziert wird. Das Land ist dann ihr Gesicht, und für sämtliche Grimassen und Runzeln und Triefnasen ist sie uneingeschränkt verantwortlich, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Um bei dem Bild von Lao-Tse zu bleiben: Der Zustand des Fischbratens währt nicht ewig, ziemlich schnell haben wir entweder einen gebratenen Fisch, der herrlich duftet und auch so schmeckt, oder wir haben einen abscheulich stinkenden Grätenstrunk, von dem alles Fleisch weggebraten ist und den man nur noch wegschmeißen kann. Im zweiten Fall merkt schließlich auch der Letzte, was ihm die Regierung eingebrockt hat, und diese kann sich weder mit Ahnungslosigkeit noch mit Gutgemeintheit herausreden. Sie steht voll in der Verantwortung und hat sämtliche Folgen der Mißbraterei zu tragen. Daran ändert auch nichts, daß andere Instanzen kräftig zur Misere beigetragen haben mögen. Wem es in zehn Friedensjahren Regierung nicht gelingt, seine eigenen Intentionen gegen ernste Gegnerschaft durchzusetzen oder zumindest kraftvoll auf den Weg zu bringen, der ist dazu auch nicht in zwanzig oder dreißig Jahren, eben überhaupt nicht in der Lage. Oder er setzt sich dem Verdacht aus, daß seine Intentionen gar nicht so weit von denen der Gegner entfernt sind, wie er immer tut, daß er mit ihnen vielmehr unter einer Decke steckt und am gleichen Stricke zieht.

Wobei noch ein Extrawort zur Ahnungslosigkeit und zum "guten Meinen" zu sagen wäre. Ahnungslose Politiker gibt es gar nicht. Es gibt vielleicht, etwa in Wirtschaftsfragen, unwissende Politiker, aber die haben ja ihre Berater und Consulter, die ihnen auf die Sprünge helfen.

Kein Berater kann dem Politiker jedoch hundertprozentige Entscheidungssicherheit garantieren; im Augenblick der Entscheidung regiert immer die Ahnung, die "bloße Ahnung", das heißt der Politiker muß, wie Lao-Tse gesagt hat, aus der "Leere" heraus entscheiden. Sein politischer Karat mißt sich genau daran, ob ihn seine Ahnung beim Entscheiden im Stich läßt oder nicht, ob sie richtig oder falsch war. Es kommt allerdings auch vor, daß Politiker ihren Ahnungen grundsätzlich mißtrauen, sich hinter allen möglichen teuren Gutachten und Expertenrunden verschanzen, denen sie – im Falle, daß es schief geht – dann auch die Schuld zuweisen. Sie selbst haben es ja so gut gemeint, aber die Experten haben versagt, oder die Verhältnisse waren halt nicht so, oder es kam etwas dazwischen, die Globalisierung zum Beispiel, die Kostenexplosion, die Maastrichtkriterien, die Asylantenfrage.

Politiker, die es gut meinen, sind wie der Dorian Gray aus dem Roman von Oscar Wilde, der faltenlos blieb, weil er die Gesichtsspuren aller gemachten Dummheiten und erlittenen Niederlagen auf ein gemaltes Wunderbild abschieben konnte. Publizisten, die den Politikern ein solches Bild malen, finden sich immer.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen