© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Zeitschriftenkritik: "Krisis"
Ideen und Debatten
von Martin Otto

Man stelle sich die Situation vor: Ein namhafter Intellektueller, eindeutig kein Vertreter des wie auch immer zu definierenden rechten Lagers, erteilt einer als "rechtsradikal" beleumdeten und ihm wohlbekannten Publikation der "Neuen Rechten" die freundliche Genehmigung, einen seiner Aufsätze im ihrem Periodikum abzudrucken.

Der Aufschrei in den Medien des In- und Auslandes bleibt nicht aus; der Intellektuelle entgegnet der ihm entgegenbrandenden Kritik erzürnt, daß er mit den Machern der Zeitschrift tatsächlich ideologisch wenig gemeinsam habe; genausowenig habe er sich jedoch für seine Zusammenarbeit zu verteidigen; das inkriminierte Heft sei inhaltlich, nicht nur seines Beitrags wegen, "gar nicht übel"; jeder möge sich das ihm publizistisch Zusagende aussuchen. Seinen Kritiker hält er gar Nähe zu stalinistischen Schauprozessen vor; deren Vorurteile seien für ihn "faschistisch".

Zustände, wie sie in Deutschland kaum denkbar erscheinen. In Frankreich hat sich ebendies Szenario Ende letzten Jahres zugetragen … Der Soziologe Jean Baudrillard hatte dem Periodikum Krisis, herausgegeben von Alain de Benoist, die Genehmigung zum Abdruck seines Aufsatzes "Illusion, ästhetische Desillusion" erteilt. Prominente Gastautoren auch von außerhalb des rechten Tellerrandes sind nichts Ungewöhnliches in der wohl führenden Theoriezeitschrift der "Neuen Rechten" in Frankreich; auch ein Politiker wie Antoine Waechter kann hier zu ökologischen Fragen Stellung nehmen. Krisis erscheint meist viermal jährlich; die gut 180 Seiten starken Ausgaben des "Revue d’idées et débats" sind jeweils einem nicht nur grammatikalisch mit einem Fragezeichen versehenen Schwerpunktthema gewidmet; Baudrillard nahm in der jüngsten Ausgabe 19 (von November 1996) zur Thematik "Kunst/Nichtkunst?" Stellung; die vorangegangenen Ausgaben 18, 17, 16 behandelten "Arbeit?", "Sexualität?" und "Gemeinschaft?".

Die Autoren gehören zu einem großen Teil dem Umfeld des auch schon als "rechte Denkfabrik" titulierten Forschungszentrums G.R.E.C.E. an; beachtenswert ist jedoch auch die Vielzahl von Gastautoren; Claude Lévi-Strauss oder eben Baudrillard lassen ihre Artikel in Krisis erscheinen. Auffällig hoch ist der Anteil außerfranzösischer und überseeischer Autoren. Finden sich gelegentlich "Klassiker" wie Spengler oder Jünger mit Aufsätzen vertreten, kann man sicher sein, daß hier Inhalte und nicht eine Suche nach "rechten Namen", die nur zu schnell zu einem Griff in die traditionalistische Mottenkiste führt, den Abdruck veranlaßten. Das Layout ist gleich dem Inhalt modern, doch ohne überflüssigen Ballast. Das intellektuelle Niveau bewegt sich freilich durchweg auf einem Niveau, das das überkommene Rechts-Links-Schema gänzlich hinter sich läßt.

Die Zeitschrift "Krisis" (Revue d’idées et de débats. 5, Impasse Carrière-Mainguet, F-75011 Paris) erscheint viermal jährlich. Einzelpreis: FF 90; im Abonnement für vier Ausgaben FF 300; außerhalb Frankreichs FF 350.


 
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