© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/97  09. Mai 1997

 
 
Herzogs Anstoß
Kolumne
von Klaus Motschmann

Die Botschaft der Versöhnung des Bundespräsidenten an die Hauptstadt des Baskenlandes, Guernica, aus Anlaß des 60. Jahrestages eines schweren Bombenangriffs der Legion Condor weckt nicht nur diese Erinnerungen an die deutsche Geschichte. Sie ruft, sicher nur bei einem sehr kleinen Teil unseres Volkes, auch weitergehende Erinnerungen an Äußerungen von Deutschen über das Baskenland, die heute aus naheliegenden Gründen kein Anlaß zur Entschuldigung sind. Gemeint sind die Überlegungen von Marx und Engels eines Genozids dieses und anderer kleiner Volksgruppen im Interesse des geschichtlichen Fortschritts.

Trotz der intensiven Marxismus-Studien in beiden Teilen Deutschlands ist es nahezu unbekannt, daß Marx und Engels im Anschluß an den deutschen Philosophen Hegel sogenannte fortschrittliche und sogenannte reaktionäre Völker unterschieden. Zu den ersteren rechneten sie die Deutschen, die Engländer, die Ungarn und die "Yankees" in den USA; zu letzteren vor allem die kleinen Nachbarvölker Deutschlands und dabei wiederum die sogenannten "Völkerruinen". Diese Reste einer "vom Gang der Geschichte", wie Hegel sagt, "unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist. So in Schottland die Gälen…, so in Frankreich die Bretonen…, so in Spanien die Basken…, so in Österreich die panslawischen Südslawen." Mit dieser Feststellung verband Friedrich Engels 1849 (!) die Hoffnung, daß der nächste Weltkrieg "nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, sondern auch ganz reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden lassen würde. Und auch das ist ein Fortschritt."

Ein gewiß aufschlußreicher Aspekt des "unaufgebbaren Humanum des Sozialismus", von dem noch immer viele Intellektualisierte träumen! In den Auseinandersetzungen um die Wurzeln deutscher Verbrechen ist dieser Teil der deutschen Geschichte bislang peinlich genau außer acht gelassen worden. Andererseits werden wir – zu Recht! – immer wieder daran erinnert, geschichtliche Tatsachen nicht zu verdrängen, weil sie sich auf Dauer nicht verdrängen lassen. Möglicherweise könnte die Guernica-Botschaft des Bundespräsidenten ein Anstoß sein, unserem Volke auch diese Wurzeln seiner Geschichte verständlich zu machen, vielleicht durch eine große Ausstellung?

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrt Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin


 
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