© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Das Dilemma des Konservatismus
von Frank Lisson

Konservatives Denken unterscheidet sich von liberalem oder linkem Denken vor allem darin, daß es – strenggenommen – gegen das verändernde Moment der Zeit gerichtet ist. Doch nicht die organisch gewordene Veränderung wird abgelehnt, sondern die, welche mit dem Gewachsenen bricht, es bis zur Unkenntlichkeit zerstört. In der modernen Welt gehört die Zerstörung des Gewachsenen aber zu einem ihrer Wesenszüge.

Bedeutet für den Liberalen der Zeitenlauf ein nach vorne hin offener Raum zur Verwirklichung des Möglichen und damit die Hoffnung auf eine ständige Verbesserung des Lebens durch andauernden Fortschritt, so hat der Zeitenlauf für den Konservativen eher etwas Bedrohliches, da er vom Bekannten und Gewohnten ins Ungewisse und Dunkle führen kann. Lebt der Liberale und der Linke für die Zukunft, teils, weil er immer noch an die positive Entwicklung der Verhältnisse durch den "Fortschritt" glaubt, teils, weil er in ihr auf die Offenbarung seiner utopischen Weltanschauung hofft, so lebt der Konservative für und durch die Vergangenheit, aus der er sich rechtfertigt und die seine Gegenwart und sein Dasein begründet.

Dieses diachrone Selbstverständnis hat jedoch dazu geführt, daß konservativer Politik seit der Neuzeit immer etwas Reaktionäres anhaftete, weil sie sich in bewegten Zeiten nicht mehr aus sich selbst erklären konnte, sondern der Dekadenz oder Überspannung des progressiven Gegners bedurfte, um sich als regulierende Kraft zu behaupten und sich weiterhin als herrschende Macht durchzusetzen. Basiert liberales und linkes Denken zumeist auf einem "Programm", das heißt auf einem rational entwickelten Muster zur Verhaltensbestimmung und Veränderung des Menschen, so beruht konservatives Denken in der modernen Welt häufig auf einer "Stimmung", also auf einer zwar irrationalen, aber plausiblen Ablehnung des Fortschritts, auf einem Bedürfnis nach Erhaltung des Bestehenden. Beide Formen des Denkens und Empfindens sind jedoch in fast jedem Menschen abwechselnd oder sogar gleichzeitig vorhanden.

In der Antike ging man bekanntlich davon aus, daß ein Staat, der Bestand haben sollte, von "reifen", weisen Männern regiert werden müsse. Nicht zufällig sind bei Platon die Regierenden seines "Staates" nicht vor dem fünfzigsten Lebensjahr in ihr Amt zu heben, waren die römischen Senatoren nie jünger als fünfundvierzig. Dagegen stehe ein Destruktions- und Erneuerungstrieb der Jugend, der auf Umsturz sinnt und deshalb bei den Alten nicht zur Staatsführung geeignet schien.

Auf der einen Seite sieht sich der Mensch also beherrscht durch einen individuellen Freiheitswillen, steht die Abkapselung vom Gewordenen, ein Emanzipationstrieb gepaart mit der tiefen Lust, neue unbekannte Ufer zu erreichen. Auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Geborgenheit, Ordnung und Sicherheit, der Hang zur Nostalgie, zum Bauen und Bewahren – konservative Wesensmerkmale. Dieser Dualismus hat Deutschland und Europa wesentlich bestimmt, er war gerade wegen seiner Konfliktbeladenheit ungemein kulturfördernd und hat das Gesicht Europas bis in unsere Tage hinein geprägt. Heute scheint jene Duplizität jedoch stark zugunsten des progressiven Instinktes verschoben zu sein. Das mag damit zusammenhängen, daß der Konservativismus im 20. Jahrhundert nach und nach seiner philosophischen Grundlage endgültig beraubt wurde und sich seitdem in der geistigen Defensive befindet. Denn der Konservativismus fußte lange Zeit fest auf der Basis des Idealismus, wonach die Dinge eine ewig bestehende, gleichsam natürliche Ordnung hätten, die gottgegeben unverrückbar alles Werden durchdrang. Jedes Signal der Veränderung brächte Destabilisierung mit sich, jede Reform stellte das bestehende System in Frage. Das war noch die Überzeugung Metternichs, der, als seine auf jene Prinzipien gegründete "Dammbaupolitik" scheiterte, allerdings selbst einsah, daß das konservative Alteuropa damit definitiv verloren war.

Nachdem jener idealistische Sockel durch den geschichtlichen Sieg des Materialismus unheilbar zersetzt schien, bestand zu befürchten, daß der gesamte Überbau konservativen Denkens in sich zusammenbreche. Dies geschah jedoch nicht. Zwar ging der staatstheoretische Führungsanspruch verloren, der Konservativismus, als tiefverwurzeltes Lebensgefühl, aber blieb bestehen. Von nun an änderte sich allerdings sein staatsphilosophisches Selbstverständnis, und er fiel von seiner einst unangetasteten staatlichen Trägerrolle in jene defensive Position, die er bis heute noch innehält. So bleibt in der Zeit der Spätmoderne dem Konservativen im Staat genaugenommen nur noch die Rolle des "Bewahrenden" – nicht mehr die des Bestimmenden. Er hat sein einstiges, in sich geschlossenes Programm verloren – die Moderne hat es ihm weggerissen. Nun steht er am Strom der Zeit und versucht, da er ihn nicht mehr "dämmen" kann, ihn wenigstens ein Stück in seinem Sinne zu bändigen, zu regulieren. Denn der Zeitenlauf, so hat er erkannt, läßt sich allenfalls verzögern – aufhalten läßt er sich nicht. Wie also hat sich der Konservative unter den gegebenen Umständen zu verhalten? Erkennt er die Spielregeln der modernen, ausnahmslos nach positivistischen Gesetzen funktionierenden Welt an, wird er zur Scheinopposition. Er versucht, auf den Zeitenlauf Einfluß zu nehmen, Bestehendes weiterhin zu erhalten, ohne allerdings in den Prozeß der progressiven Veränderung wirkungsvoll eingreifen zu können. Blickt der Konservative trostsuchend auf die "gute alte Zeit" zurück? Oder beginnt er, aus der Leere fliehen zu wollen, die ihn umgibt, wenn er bemerkt, daß alles, was einst für erhaltenswert gegolten hatte, unwiederbringbar im Meer der Geschichte versunken liegt? Das Rad der Geschichte rollt immer schneller, und es will scheinen, als schwinde mit seinem Lauf gleichzeitig der Bestand des traditionell Gewachsenen – heute mehr denn je. Die Realität des derzeit Bestehenden gibt zu dieser Vermutung hinreichend Anlaß. Zwei Beispiele: Deutschland ist wider allen anderslautenden Bekundungen längst ein Einwanderungsland geworden, dessen soziokulturelles Gesicht sich in den nächsten Jahrzehnten noch weiter verändern wird. In der bundesdeutschen Bildungspolitik ist der abendländisch-humanistische Boden bereits deutlich zugunsten einer global orientierten Nutzmenschenerziehung verlassen worden, was den endgültigen Abschied aus der europäischen Bildungstradition bedeutet. Nur zwei von vielen bestehenden Erscheinungen, die als neue Realitäten so wenig bewahrenswert sind wie sie sich rückgängig machen ließen.

Im postidealistischen Zeitalter ist der "Staat" eben nicht mehr "Träger der sittlichen Gesetze auf Erden" (Hegel), sondern Verwalter des Wohlstandes aller. Und deshalb, weil der Konservative das eine vermißt, vom anderen aber profitiert, taumelt er heute so oft zwischen Widerstand und Anpassung. Der Siegeszug der Moderne hat den Konservativen unsicher gemacht. Einerseits findet er keinen wirklichen Halt in der modernen Welt, andererseits kann er sich ihr aber auch nicht verweigern. So sieht er sich von einem dauernden Unbehagen umgeben, das sich nicht abschütteln läßt, weil es einen beträchtlichen Teil der Umwelt bildet, in der er leben muß. Ihm fehlt gemeinhin die Kraft, in dieser verqueren Lage ein konsequentes Verhalten zu entwickeln, das ihm zu einer neuen, selbstbewußten Existenz verhelfen würde, anstatt in einer ewigen Abwehrhaltung zu verharren. Konsequent sein hieße demnach für den Konservativen entweder: bewußter Rückzug aus dem modernen Getümmel, Mut zur Sezession, zur Absonderung, Konzentration auf das Wesentliche, kontemplative Abkehr von der geistigen Verwahrlosung; kurz: die Verwirklichung des konservativen "hortus conclusus-Gedankens". Diesen Weg war in weiten Teilen auch schon die "Konservative Revolution" gegangen und hatte dadurch, obschon ihr kein politischer Erfolg beschieden war, so doch eine eigene Kultur begründet. Freilich lagen aber auch nicht zuletzt in ihrer Verweigerungshaltung die Gründe ihres politischen Scheiterns.

Der Weg des fortgesetzten Idealismus ist heute jedoch ungleich schwieriger – weil ergebnisloser – zu gehen als noch vor achtzig Jahren. Er führt heute viel zu schnell in den eng benachbarten Pfad, den des "Illusionismus", von dem zwar der italienische Dichter Giacomo Leopardi sagte, daß "ohne ihn unser Leben die elendste und barbarischste Sache wäre", der aber als spekulativer Zugang in den selbstgeschaffenen Raum der eigenen der "besten aller Welten" sich leicht im Spiel der bloßen Theorien verläuft. Denn die "beste aller Welten" ist bekanntlich die jeweils existierende, da sie die einzig wirkliche ist. Und die läßt sich naturgemäß nicht konservativ korrigieren.

Daher sind die meisten Konservativen heute nüchterner geworden. Sie wollen an der modernen Welt politisch teilhaben, weil die momentanen gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen keine philosophisch-kulturelle Wirkung mehr zu erlauben scheinen. Doch ist auch der sich aus dieser Überlegung heraus ergebende alternative Weg ein so zwiespältiger, daß er ebenfalls nicht voll befriedigen mag, um eine konsequente Hinwendung zu verdienen: es ist der Weg der Partizipation am Bestehenden. Dieser Weg nämlich würde bedeuten, sich damit abzufinden, daß eine teilhabende Kraft, ein Regulator am Ganzen zu sein, da es zur Erlangung einer konservativen "kulturellen Hegemonie", unter der man selbst zum lenkenden "Ganzen" würde, eben des philosophischen Systems, des verwirklichbaren "Programms" sowie (mehr und mehr) des tatsächlich Erhaltenswerten ermangelt. Schließlich bedeutet die Teilnahme an der modernen Welt aber auch, sie und ihre kulturverneinende Entwicklung als solche anzuerkennen, und endlich: selbst ein Teil ihres Systems zu werden. Die Frage bleibt, wer dabei am Ende wen beherrschen wird: das konservative Denken die moderne Welt, oder die moderne Welt das konservative Denken?

Frank Lisson hat in der JUNGEN FREIHEIT 30/96 über die Suche nach einer konservativen Ästhetik geschrieben.


 
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