© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Pankraz, Seneca und die Ohnmacht von Verachtung und Abkehr
von Günter Zehm

Die Bonner Politiker sollten sich wirklich bald ein anderes Volk wählen. Zur Zeit barmen sie lauthals darüber, daß ihnen aus der "Bevölkerung" nur noch Mißtrauen und Verachtung entgegenschlage. Statt einer "Informations- und Leistungsgesellschaft", so der Tenor des neuesten Partygewäschs in der Bannmeile, hätten "die Deutschen" eine "Mißtrauens- und Verachtungsgesellschaft" aufgebaut. Wer könne da noch effektiv Politik machen?

Freilich, kaum jemand in Bonn regt sich, wenn Pankraz richtig zuhört, sonderlich auf über die Verachtung, die ihm entgegenschlägt; eher kokettiert man mit ihr. Es sind alles ausgebuffte Roués der Machtausübung, die genau wissen, daß die Verachtung ein ziemlich friedlicher, unaggressiver Affekt ist, der seinen Objekten kaum gefährlich wird. Schon Seneca konstatierte: "Je mehr einer verachtet wird, umso fröhlicher rührt er die Zunge". Politische Verächter sind geborene Nichtwähler oder solche, die am Ende doch "das kleinere Übel" wählen. Deshalb kann man sie im Machtspiel vernachlässigen. Es gibt überhaupt nur zwei Wege, auf denen Verachtung zur politischen Kraft werden kann. Entweder sie bemächtigt sich einer ausgedehnten Publizistik und zieht die Verachteten Tag für Tag so nachhaltig durch den Kakao, daß am Ende selbst der Unempfindlichste sagt: "Weg mit diesen Figuren, sonst werde ja am Ende ich selbst noch verächtlich". Oder sie schlägt um in eine Art Befehlsverweigerung, Bürgersabotage, dergestalt daß die Verächter nicht nur mehr die Verachteten, sondern auch deren Apparat buchstäblich links liegen lassen, nur noch das Alleräußerste für das Gemeinwesen tun, und auch das noch widerwillig, Verfaulenlassen also statt Wegräumen.

Was das erste betrifft, die Publizistik, so ist in Deutschland dieser Weg eindeutig versperrt, weil die berühmten "Medien" schon längst selber durch und durch verächtlich geworden sind. Sie kitzeln nur noch die banalsten Instinkte, um dann am Sonntag (oder in Bundespräsidentenreden) ein derart diffuses Donnerpathos, eine derart allgemeine Bevölkerungsbeschimpfung vom Stapel zu lassen, daß sich niemand von ihr getroffen fühlen muß, sich im Gegenteil voll darin bestätigt fühlen darf. Man sitzt im selben Boot und grüßt sich augenzwinkernd Unter den Linden.

Mit dem zweiten, der Bürgersabotage und Apparateverweigerung, verhält es sich komplizierter. Man kann nicht sagen, daß hier nichts geschähe; wer genau hinsieht, merkt, daß bereits vielerorts der Übergang von der Verachtung zur aktiven Abkehr vollzogen ist. Nur, die Abkehr äußert sich nicht, wie einst im 68er Mai, in grellen Nullbock-Festivals, sondern auf leise, traurige Weise.

Es sind ja auch keine professionellen Krawalliers, die da aktiv werden, sondern bedächtige, im Grunde völlig loyale Bürger, Väter etwa, die Angst um ihre Kinder in den öffentlichen Schulen haben, Geschäftsleute, die es satt haben, wegen der Unübersichtlichkeit des Steuersystems faktisch ständig mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. Solchen Leuten ist natürlich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, daß sie durch ihre eigene verächtliche Haltung zur öffentlichen Fäulnisbildung beitragen. Sie hätten beispielsweise gern ein von der Politik geschaffenes einfaches und leistungsfreundliches Steuersystem. Aber wenn sie sehen, was Bonn statt dessen auf die Beine stellt (oder besser: als Wechselbalg auf die Straße wirft), dann überschreiten sie eben eines Tages die Schwelle von der bloßen Verachtung zur aktiven Sabotage, üben sich in Steuertricks, schminken sich auch noch das letzte bißchen Staatsbürgertugend ab – und werden wohl oder übel, gewissermaßen contre cœur, zu aktiven Mitgliedern der Mißtrauens- und Verachtungsgesellschaft.

Bonns Politiker ficht das, wie gesagt, wenig an, aber um das Land ist es natürlich schade. Es verfault nun erst einmal, bevor sich in ihm wieder etwas zum Positiven ändern kann. Das ist zumindest für die ehemaligen Westdeutschen ein ganz neues Lebensgefühl, waren sie es seit 1945 doch gewohnt, daß man, wenn irgendwo sich Schwamm oder sonstige Fäulnis zeigte, sofort mit dem Restaurieren bzw. Abreißen und Neubauen begann. Eigentlich muß man sich wundern, daß ihnen diese repräsentative Nachkriegsmentalität in den Kohljahren so reibungslos abgewöhnt werden konnte.

Was dagegen die ehemaligen DDR-Bewohner betrifft, so haben sie bekanntlich mit der Fäulnis schon früher intime Bekanntschaft schließen müssen. Das ihnen aufgezwungene System verfaulte so konsequent und gründlich, daß es eines Tages zu einer regelrechten Implosion kam: es machte puff, und der ganze Laden war nicht mehr. Gottlob hatten sie die (scheinbar noch unverfaulten) westlichen Brüder und Schwestern zur Seite, die ihnen halfen, die Folgen der Implosion halbwegs zu verkraften.

Daß dem verfaulten Gesamtvaterland aus irgendeiner Richtung je ähnlicher Beistand zuteil werden wird, ist gänzlich unwahrscheinlich. Die Verbündeten werden sich statt dessen vor Lachen und vor Schadenfreude auf die Schenkel schlagen; sie tun es jetzt schon. Eine welthistorisch lange Dekadenzzeit steht uns bevor, falls die Verachtung weiterhin als einzige Attitüde gegen die Bonner Pfuscharbeit kultiviert wird.

Sicher, Alternativen dazu zu erarbeiten, macht Mühe. Aus den linken Implosionstrümmern lassen sich wahrhaftig keine brauchbaren Anregungen beziehen, und alles, was rechts von Kohl und Waigel zu politischer Artikulation drängt und nicht auf einen reinen Gangsterkapitalismus hinausläuft, ist von Bonn und den Medien erfolgreich tabuisiert und kriminalisiert worden. Da ist guter Rat teuer. Aber vielleicht wäre schon einiges gewonnen, wenn es gelänge, die reinen Verächter mißtrauisch gegen sich selbst und gegen die Wirksamkeit ihrer Haltung zu machen.


 
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