© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Zeitschriftenkritik: "Sinn und Form"
Schwätzerfreie Enklave
von Thorsten Hinz

Als die Zeitschrift Sinn und Form 1948 von sowjetischen Kulturoffizieren und dem kommunistischen Dichter Johannes R. Becher aus der Taufe gehoben wurden, dachten diese an ein domestiziertes Intellektuellen-Blatt mit einem gewissen Freiraum, das als liberale Visitenkarte namentlich im Westen Sympathien gewinnen sollte. Doch unter Einfluß des ersten Chefredakteurs, des Lyrikers Peter Huchel, der im Dritten Reich in der "inneren Emigration" überwintert hatte, wurde es zur Enklave, in der Opportunismus und erst recht Dogmatismus keine Chance hatten, sondern als einziger Maßstab intellektuelle und künstlerische Qualität galt: Hier übten Brecht, Bloch, Döblin, Enzensberger, Jahnn und Hans Mayer, um nur wenige zu nennen, mitten im "Kalten Krieg" produktive Koexistenz, hier wurde in der Kultur zusammengefügt, was in der Politik längst geteilt war. Sinn und Form wurde zur über die Meinungslager anerkannten, besten Literaturzeitschrift Nachkriegsdeutschlands.

Nach dem Mauerbau wurde Huchel die Chefredaktion genommen, die Zeitschrift erlebte einen Absturz, von dem sie sich erst in den siebziger Jahren wieder zu erholen begann. Für Leser in der DDR bildete sie zunehmend ein Guckloch in die Welt, etwa wenn der Anglist Robert Weimann sich über die im Westen laufenden Postmoderne-Debatten äußerte. In den achtziger Jahren fand eine erregte Auseinandersetzung um die Nietzsche-Rezeption statt, die, wie man heute weiß, das Ende des ideologisierten Machtstaates antizipierte.

Inmitten neuer Unübersichtlichkeiten nach 1989 kann man an alte Huchel-Zeiten nicht einfach wieder anknüpfen. Die amtierende Redaktion unter dem Philosophen Sebastian Kleinschmidt hat es aber verstanden, auf neue Weise den exklusiven Charakter der Zeitschrift zu rekonstruieren, indem sie Sinn und Form als eine Enklave ernsthafter geistiger Arbeit konstituiert und nur Leute zu Wort kommen läßt, die etwas zu sagen haben und das auch ausdrücken können. Koryphäen wie François Furet, Gert Mattenklott oder George Steiner bürgen schon per se für höchste Qualität. Hier wurde 1993 Heiner Müllers Monumentalgedicht "Mommsens Block" abgedruckt, dem Durs Grünbein, das wahrscheinlich größte lyrische Talent der Gegenwart, Anfang dieses Jahres seinen "Bericht von der Ermordung des Heliogabal durch seine Leibgarde" – eine gleichnishafte Travestie auf aktuelle Geschichtserfahrungen – zur Seite gestellt hat. Die assoziationsreichen Texte des Schriftstellers Volker Braun, die die Entwertung des sozialen, intellektuellen und politischen Kapitals der DDR-Bevölkerung als gesamtdeutsches Paradigma nach 1989 beschreiben, sagen mehr über die tektonischen Verwerfungen und virulenten Probleme aus als die meisten ambitionierten Zeitungsartikel, Analysen und Umfragen. So spiegelt die Zeitschrift die geistige Situation unserer Zeit auf einem Niveau und mit einem Facettenreichtum, die anderwo kaum ein Pendant finden.

"Sinn und Form", Beiträge zur Literatur. Pariser Platz 4, 10117 Berlin. Erscheint zweimonatlich. Jahresabonnement 64,20 DM (Inland) bzw. 80 DM (Ausland). Das Einzelheft kostet 12,50 DM.


 
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