© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Burschenschaften: PDS-Vordenker André Brie gibt sich die Ehre
Kinderland statt Vaterland
von Axel Gierspeck

Zu einem Vortragsabend ganz besonderer Art hatte in der vergangenen Woche die Göttinger Burschenschaft Alemannia den "Chefideologen" und Wahlkampfleiter der PDS, André Brie, aus Berlin eingeladen. Brie zeichnete verantwortlich für ein Wahlkampfplakat der PDS mit dem Slogan "Kinderland statt Vaterland". Der diametrale Gegensatz zum Wahlspruch der Deutschen Burschenschaft, "Ehre, Freiheit, Vaterland", bildete das Thema für einen direkten Vergleich zweier Weltanschauungen. Schon in der Einleitung gestand Brie seine Schwierigkeiten mit dem Thema und kommentierte den Leitsatz der Gedenktafel für die Gefallenen der Weltkriege über sich mit den Worten "Sterben für Deutschland? Da gibt es bessere Gründe zu sterben!" Der aus einer jüdischen Familie stammende Brie begründete seine Zuneigung zum Sozialismus durch familiäre Zusammenhänge. Der Vater trat schon 1919 in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. Die Familie flüchtete 1934 nach Prag. Brie wuchs später in der DDR auf und genoß selbst eine atheistische Erziehung.

Ehre definiert Brie als Verläßlichkeit und Konsequenz in einer gesellschaftlichen Kontinuität. Vaterland betrachtet er weniger als geographische Größe. Er sieht nur die Notwendigkeit einer kulturellen Verankerung der Menschen. Freiheit ist für Brie die "Freiheit von Etwas" und nicht die "Freiheit für Etwas". Er fordert die politische, soziale, individuelle und kollegiale Freiheit für alle. Für die Linke in Deutschland bedeutet der Begriff Freiheit nach Ansicht Bries in erster Linie "Befreiung", für ihn dagegen bedeutet sie "Selbstbefreiung".

Brie referierte zur Frage, warum er ein Kinderland dem Vaterland vorziehe, daß er mit dem Begriff Vaterland des burschenschaftlichen Wahlspruches die größten Schwierigkeiten habe. Die Linke hat nach Meinung Bries nie eine dauerhafte, stringente Ansicht zum Vaterland entwickelt. Vielmehr sei sie von der Brecht’schen "Kinderhymne" aus DDR-Zeiten geprägt, in der gefordert wird: "Nicht über oder unter anderen Völkern wollen wir sein". Die Tradition des Wartburg- und Hambacher Festes der deutschen Burschenschaft hob er jedoch ausdrücklich hervor. Er forderte die Abschaffung des völkischen Staatsbürgerrechtes zugunsten der Einführung eines republikanischen Völkerrechtes nach dem Vorbild Frankreichs. Man könne Menschen nicht allein aufgrund ihrer Herkunft anders beurteilen, begründete Brie seine Kritik an der 20prozentigen Kürzung der Sozialhilfe für Ausländer, in der er latenten Rassismus sieht. Schließlich stelle unser Grundgesetz heraus, daß alle Menschen und nicht alle Deutschen gleich seien. Trotz der gespaltenen Ansicht der Linken zum Vaterland sieht Brie auf dem Begriff selbst kein Monopol für konservative Kräfte und stellte Beispiele von linken Größen der Geschichte vor, die nach jahrelangem Exil ihren Sinn fürs Vaterland zurückfanden.

Selbst würde er den Begriff Heimat vorziehen, denn unser Vaterland versteht er nicht mehr als das Land, in dem er lebt. In Deutschand sieht er heute eine patriachal geprägte Gesellschaft, deren Kinder nur als Vorstufe zum Leistungsträgerdasein angesehen werden. Brie fordert nicht die Kinder an die Macht, gern würde er aber mehr Rechte für Kinder erreichen und kritisiert vehement das Sparpaket der Bundesregierung, mit dessen Hilfe die Zukunft der Kinder weggespart werde. Sechs Punkte umfaßt sein Programm zur Verhinderung der Auslassung der Gesellschaftsprobleme an den Kindern unseres Staates. Brie will

  • konsequent obrigkeitsstaatliches Denken und patriachale Entwicklungen zurückdrängen und durch emanzipatorische ersetzen,
  • die anachronistische Rolle von Militär und militärischer Sicherheit radikal verändern und die "Militarisierung" der deutschen Außen- und Innenpolitik stoppen,
  • alle Tendenzen der Abschottung, wie Zölle und Grenzen zugunsten einer internationalen Öffnung bekämpfen,
  • die innere Sicherheit durch soziale Chancengleichheit stärken mittels weniger Polizei mit weniger repressiven Mitteln und
  • eine nachhaltige Entwicklung zur ökologischen Umkehr und mehr Gerechtigkeit im Nord-Süd-Gefälle erreichen.

Mit Marx schließt Brie, daß die heutige Generation den künftigen eine verbesserte Welt hinterlassen müssen. Im Anschluß an den reichlich mit Zitaten gespickten Vortrag entwickelte sich im Plenum eine rege Diskussion, zu deren Beginn Brie seinen Wahlkampfslogan vom Kinderland als Provokation auf die heutige Entwicklungen in unserem Staat verstanden wissen wollte. Die Frage, ob eine Abkehr vom Vaterland für Kinder nicht in die Orientierungslosigkeit führe, verneinte Brie. Als andere Identifikationsmöglichkeiten nannte er Bildung und Kultur, die seiner Ansicht nach nicht kommerzialisiert werden dürfen und für die er mehr Geld fordert. Brie spricht sich gegen radikalen Antiautoritismus und für die Bewahrung des privaten Eigentums und Kapitals sowie für die Erhaltung des Leistungsprinzips aus.

Zum Ende der Plenumsdiskussion näherten sich die Standpunkte von Referent und Zuhörern erstaunlich an, als Brie sich gegen die Einführung des Euro aussprach. Er sieht hierin zuviel Monopolismus und Zentralismus, die seiner Ansicht nach die Sozialstaatlichkeit gefährde. Ein Dualismus aus Nationalstaat und europäischer Integration wäre für ihn ein denkbares Modell. Im kleineren Kreis wurde bis lange nach Mitternacht weiter debattiert und Brie bekundete Zufriedenheit mit seinem Schritt des aufeinander Zugehens. Eine Diskussion im Kreise junger Burschenschafter war für ihn – und sicher für die PDS insgesamt – ein Novum.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen