© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/97  23. Mai 1997

 
 
Pankraz, Johann Christoph Gottsched und die Erotik der Glatzen
von Günter Zehm

Glatze wird aktuell, wird "in", wird in den Augen der Mädchen attraktiv. Man kann das daran erkennen, daß immer mehr Jugendidole, Fußballstars beispielsweise, Ziege, Zickler, Jancker, sich Glatzen oder glatzennahen Totalhaarschnitt verpassen lassen. Auch bei den Rap-Musikern, wie sie in Viva oder MTV zu besichtigen sind, dominiert bereits eindeutig Glatze: "Der Wolf" mit seinem Afrolook strömt ja dagegen nur noch Dortmunder Provinzmief aus. Zottelhaar und Irokesenfrisur sind "out". Der Skinhead triumphiert über den Punk, zumindest in der Mode.

Wenn Pankraz sich richtig erinnert, ist es das erste Mal in der Geschichte Mitteleuropas, daß dergleichen passiert. Bis dato galt Glatze immer als Unmode, als Zeichen des Herausfallens aus der guten Gesellschaft, als Habitus der Zuchthäusler. Wer etwas zu sagen hatte und von Natur aus oder von Alters wegen eine Glatze trug, suchte das sorgfältig zu verbergen.

Berühmt die Szene aus "Dichtung und Wahrheit", wo der junge Student Goethe in Leipzig dem Literaturpapst Gottsched seine Aufwartung macht und der ihm momentweise als kompletter Glatzkopf entgegentritt, weil der Diener versäumt hat, seinem Herrn zur rechten Zeit die Perücke zu reichen. Die ungeheure Ohrfeige, die der Diener deshalb, Goethes Bericht zufolge, bekommt!

Noch heute gilt: Wenn sich ein Behaarter und ein Glatzenträger prügeln, ist immer der Glatzenträger schuld, besonders im Falle, daß der Behaarte von auswärts stammt. Dann setzt es für die Glatze regelmäßig hohe bis höchste Gefängnisstrafen, auch wenn sie noch so betrunken war und noch so viele weitere mildernde Umstände vorliegen mögen. In den Knästen der BRD wimmelt es mittlerweile von autochthonen proletarischen Jugendglatzen, die manchmal zwölf oder fünfzehn Jahre auf dem Buckel haben und kaum eine Chance, vorzeitig herauszukommen.

Vor einiger Zeit bei einem Waldheim-Veteranentreffen sprach Pankraz mit einem etwa dreißigjährigen Glatzkopf, der – wie sich herausstellte – in derselben Zelle wie einst er selbst eingesessen hatte, und zwar gleich zweimal, einmal noch bei den Kommunisten ("römischer Gruß" beim Fußballspiel), das zweite Mal kurz nach der Wende (Hoyerswerda). Was der Mann erzählte, war sehr interessant und gehört wohl irgendwie in die Kulturgeschichte der Glatze hinein.

"Bei den Kommis war es besser als bei den Wessis", konstatierte er klipp und klar. "Bei den Kommis kam einmal im Monat ein Funktionär aus Dresden oder Berlin und hielt in der Kirche einen politischen Vortrag, sonst ließen sie uns in Ruhe. Heute dagegen wird man dauernd vom Psychologen angequatscht und belästigt. Auch das Spitzelwesen hat sehr zugenommen. Früher sah man in der Dreißigmannzelle genau, wer nach vorn zum Unterleutnant geholt wurde, und konnte sich vor ihm in acht nehmen. Heute laufen mindestens vier von zehn Zellengenossen nach politischen Gesprächen zum Psychologen, um zu petzen, darunter manchmal sogar Glatzen."

"Bei den Kommis", fuhr er fort (und Pankraz konnte es bestätigen), "kriegten wir bei Einlieferung einen glatzenähnlichen Schnitt, und der wurde bei Bedarf immer wieder erneuert. Heute weigert sich der Friseur oft, Glatze zu schneiden, auch wenn man es ausdrücklich verlangt. ’Es ist doch in deinem eigenen Interesse’, sagt er, ’Glatzen bringen doch beim Psychologen nur Minuspunkte ein.’ So ändern sich halt die Zeiten."

Ob die neueste Glatzenmode der Fußballstars und Rapper eine geheime Solidarisierung mit den frechen Prolo-Glatzen ausdrücken soll? Pankraz glaubt es eigentlich nicht. Eher scheint im Zuge des Immer-mal-was-Neues eine merkwürdige erotische Faszination von den Glatzen auszugehen. Eine Mitarbeiterin der Frauenzeitschrift Amica erklärt dazu folgendes: Die Glatze macht einen Jungen unheimlich sexy, besonders wenn er feine, zarte Schläfen hat und als Gegensatz dazu einen ziemlich starken, feisten Nacken. Kraft und Zärtlichkeit werden einmalig präsent. Außerdem drückt die Glatze echte Ehrlichkeit aus. ’Seht her’, sagt sie, ’so bin ich nun mal, ich habe nichts zu verbergen. Bei mir weißt du immer, woran du bist.’ Die Mimik eines Gesichts wirkt doppelt ausdrucksvoll, wenn sie unter einer Glatze abrollt."

Darüber kann man natürlich auch heute noch sehr verschiedener Meinung sein. Ebenso gut ließe sich sagen, die Glatze verbirgt, kaschiert zum Beispiel komisch feuerrotes oder früh ergrautes Haar, unerwünschte Geheimratsecken oder grobe, fettige Haarstruktur. Und was die Mimik unterm Schatten der Glatze betrifft, so mag sie vielleicht ausdrucksvoll wirken, aber meistens ist das eine völlig unbeabsichtigte, auf falsche Fährte führende Ausdruckskraft, weshalb schon der große Rhetor Demosthenes seinen Zuhörern riet: "Haarlose Redner verhöhnet nicht, denn sie meinen oft nicht das, was sie zu sagen scheinen!"

Möglicherweise wäre das auch ein Ratschlag an Jugendrichter und Gefängnispsychologen, wobei man das "verhöhnen" nur durch "verknasten" ersetzen müßte. Es ist keineswegs ausgemacht, ob Glatzentragen von vorneherein Ausdruck besonders gemeiner Gesinnung und krimineller Energie ist. In vielen Fällen wird es nichts weiter sein als Ratlosigkeit und der trotzige Versuch, einer an sich vielleicht bedenkenswerten Sache Ausdruck zu verschaffen, deren Wortform entweder verboten, dem gelassenen Diskurs entzogen oder aber schwer zu artikulieren ist.

Jedenfalls ist es nicht in Ordnung, daß ein gar nicht so kleiner Teil des deutschen Jugendproletariats im Knast verrottet (selbst wenn er dadurch vor Arbeitslosigkeit bewahrt bleibt). Und beileibe nicht jede Unordnung hierzulande nistet exklusiv unter jugendlichen Glatzen.


 
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